Auf den Inseln des letzten Lichts
Litauen wäre ich arbeitslos. Oder würde an einer Supermarktkasse sitzen.«
»Wohin fährt Torben mit dem Schiff?«
Ester hob den Kopf und sah Megan an. »Warum?«
Megan beeilte sich zu lächeln. »Nur so.«
»Ich weiß nicht.« Ester trank einen Schluck Kaffee. »Zum Festland. Einkaufen.«
»Dreimal die Woche?«
Ester zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat er irgendwo eine Freundin.« Sie erhob sich, wischte die Handflächen an der Hose ab. »Ich muss los.«
»Ich auch. Nachsehen, wie es Wesley geht.«
»Tja dann.« Ester lächelte, aber ihr Blick, der Megan streifte, war leer. »Wir sehen uns später.«
»Ja.«
Ester blieb einen Moment lang unschlüssig stehen, dann ging sie zur Tür und verließ die Baracke.
Megan trank ihren Kaffee. In der Küche spielte das Radio. Über Klavierklimpern und kindlich fröhlichem Singsang war das gleichmäßige Ratschen des Messers zu hören, mit dem Rosalinda den Fisch entschuppte.
Die Fenster waren geöffnet, eine kaum spürbare Brise strömte in den Raum. Chester saß auf einem Stuhl, klaubte mit den Fingern die Körner aus einem gekochten Maiskolben und steckte sie sich in den Mund. Er sah gebannt auf den Bildschirm eines Fernsehers, der, zusammen mit einem Videorekorder, auf einem Tisch vor ihm stand. Soweit Megan es hatteerkennen können, lief ein Film über Kohleabbau. Bagger und Lastwagen, groß wie Einfamilienhäuser, stießen schwarze Abgaswolken in den leeren Himmel über einer Mondlandschaft. Der Ton war heruntergedreht, die Motoren der Maschinen klangen wie fernes Räuspern.
»Wollen Sie wirklich nichts trinken, Liebes?« Nancy thronte in ihrem Sessel und rauchte. Sie trug weiße Riemchensandalen, eine weiße Hose, eine weiße Bluse und einen blauen Blazer, auf dessen Brust ein goldenes Wappen genäht war.
»Nein, danke«, sagte Megan und fragte sich, ob es nötig sei zu wiederholen, dass sie gerade vom Frühstück kam. Sie hatte die entzündete Stelle an Wesleys Fuß behandelt und war jetzt dabei, einen neuen Verband anzulegen.
»Die meisten Menschen trinken zu wenig, müssen Sie wissen.« Wie um diese Aussage zu bekräftigen, nahm Nancy einen tüchtigen Schluck aus ihrem Glas. Ein Krug Zitronenlimonade stand auf dem Tisch neben ihr.
Megan umwickelte den oberen Teil der Bandage mit Klebeband, damit der Bonobo das Ende nicht ablösen konnte, dann schnallte sie die gepolsterte Stütze um den Fuß, die den Gips ersetzte. Als sie fertig war, legte sie Wesley eine Antibiotikumtablette in den Mund und hielt ihm ein Glas Orangensaft an die Lippen.
»Trinken Sie Alkohol, mein Kind?«, fragte Nancy.
»Ab und zu.«
»Sehr ungesund«, sagte Nancy und blies eine Rauchwolke aus, die zur Decke stieg wie die Dieselschwaden aus den Maschinen, denen Chester noch immer fasziniert zusah.
Megan nahm Wesley das Glas ab und streichelte seinen Kopf. Der Bonobo lag auf einem Badetuch, das über den Teppich gebreitet war. Immer wieder streckte er eine Hand aus und berührte Megans Gesicht oder Haare.
»Vor allem in diesem Klima.« Nancy legte die Zigarettenkippe in den Aschenbecher, wo sie weiterbrannte, weil Ruben nicht da war, um sie auszudrücken. Ein Rauchfaden kräuselte sich zur Decke hoch.
Megan hatte den Jungen gesehen. Er war mit dem Hund über ein Feld gegangen, langsam und scheinbar in Gedanken versunken, wie ein alter Mann mit seinem langjährigen treuen Begleiter.
Nancy erhob sich ächzend. »Und, wie sieht es aus?«
»Sehr gut. Alles bestens.«
»Wollen Sie nicht noch etwas bleiben? Wir machen gleich ein wenig Unterricht.« Nancy sah zum Fernseher. »Der Film ist fast zu Ende.«
»Unterricht?«
»Na ja, ich versuche, die beiden hier ein wenig auf Trab zu halten. Gripsmäßig.«
»Wenn ich nicht störe?«
»Überhaupt nicht.« Nancy holte das oberste Heft von einem Stapel im Bücherregal, stellte sich hinter Chester und wartete, bis der Abspann lief, dann schaltete sie den Fernseher und den Videorekorder aus. »So, du Faulpelz, jetzt zeigst du unserer Frau Doktor einmal, was du kannst.« Sie nahm Chesters Hand und ging mit ihm in den angrenzenden Raum. »Bringen Sie bitte Wesley?«
Megan hob den Bonobo hoch und trug ihn hinüber, wo sie ihn auf den Stuhl neben Chester setzte. Erst jetzt bemerkte sie, dass beide eine dunkelblaue Hose und ein graues Kurzarmhemd trugen, was sie aussehen ließ wie Jungen in Schuluniformen. Auf Chesters Hemd waren mehrere dunkle Flecken, vermutlich die Spuren eines ausgiebigen Frühstücks. Er legte die Unterarme
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