Auf den Inseln des letzten Lichts
in sicherer Distanz zum erbärmlichen Leben und Sterben, dessen Zeuge zu sein ich mich weigerte. – Und da war ich nun. Saß in Straßenkleidung hinter einem zerkratzten Tisch, fuhr mit dem klapprigen Rad zur Apotheke und hauste im Schatten zwischen den Häusern statt im Licht des Himmels. Meine Patienten waren nicht elegant, sie rochen nicht gut, sie redeten nicht die gleiche Sprache wie ich, sie konnten sich kein neues Herz leisten, wenn das alte verbraucht war, sie bezahlten nicht mit der Karte, sondern klimperten mit Münzen und entrollten speckige kleine Scheine oder fassten wie Zauberer in einen Korb und zogen ein gerupftes Huhn daraus hervor, ein Paar Schuhe, ein Tuch.« Tanvir lächelte, schüttelte ein wenig den Kopf. Dann rieb er sich die Augen, trank die Tasse leer und stellte sie hin. »Der Rest der Geschichte ist absurd und schrecklich wahr und verlangt nach vielen Tagen des Erzählens. Aber von mir bekommen Sie das letzte Kapitel in zehn Minuten. Was sagen Sie?«
»Ich sitze hier«, sagte Megan. »Ich höre zu.«
»Der Ort hieß Bophal, und so heißt er noch immer. Mein Bruder und ich waren zwei von Hunderttausenden. Wir wohnten in einem Haus, gehörten zu den Privilegierten. Um uns herum standen Hütten aus Abfall, Schutt und Sperrholz, aus Pappe und Autoreifen. Menschen lebten darin, so unglaublich es war. Sie kochten und aßen darin, sie schliefen unter den Dächern aus Brettern und Plastikfolie, sie liebten sich in ihren Betten aus Lumpen und dünnen Decken, sie zogen ihre Kinder darin groß und hielten die Hand ihrer Eltern, die auf der einzigen Matratze in einer Ecke lagen und auf ihr nächstes Leben warteten. Am Tag kümmerten sich die Mädchen um die Kleinen, spielten mit ihnen, erzählten ihnen Geschichten, selber noch Kinder. Die Jungen verdingten sich für ein paar Rupien, sammelten Verwertbares auf den Müllkippen, zogen durch die Straßen auf der Suche nach irgendetwas, um am Abend nicht mit leeren Händen nach Hause gehen zu müssen. Die Männer und Frauen arbeiteten in den Fabriken, von denen es viele gab, einige davon in ausländischemBesitz, angezogen von den Versprechungen korrupter Politiker, tiefen Landpreisen, Steuervergünstigungen, laschen Gesetzen, fehlenden Sicherheitsauflagen, billigen Arbeitskräften. – Dann kam die Nacht vom zweiten auf den dritten Dezember neunzehnhundertvierundachtzig. Aus einem Tank der Firma Union Carbide traten vierzig Tonnen einer Chemikalie aus, deren Name Ihnen nichts sagen wird. Der Stoff wurde für die Herstellung eines Pflanzenschutzmittels verwendet. Durch menschliches Versagen, Leichtsinn, Sabotage oder eine Verkettung tragischer Umstände kam er mit Wasser in Berührung. Der Tank hielt dem Druck nicht stand, und eine Wolke breitete sich aus und tötete innerhalb weniger Minuten hunderte Menschen. Syed und ich waren wegen des beißenden Gestanks aufgewacht und auf das Dach gegangen. In den Straßen und Gassen lagen die Leichen von Menschen, Kühen, Hunden. Vögel waren aus den Bäumen gefallen. Wir hatten uns in nasse Laken gewickelt und auf den Boden gelegt, unsere Augen brannten, wir konnten kaum atmen. Wir hörten Frauen schreien, das Weinen von Kindern, das Heulen von Sirenen. Ich wollte helfen, wollte den Sterbenden zurufen, nach oben zu kommen, weg vom ätzenden Gas, aber ich rührte mich nicht. Mein Körper fühlte sich an, als sei ihm die Haut abgezogen worden, ich konnte nichts sehen, in meinen Lungen loderte ein Feuer. – In den ersten drei Tagen starben zehntausend Menschen, wahrscheinlich mehr, über hunderttausend wurden verletzt. Später erkrankten viele an Krebs, es kamen missgebildete Kinder zur Welt, ich habe selbst einige entbunden. Noch heute leiden Zehntausende unter den Folgen der Katastrophe. Und noch immer warten sie auf eine Entschädigung.«
»Und Sie?«, fragte Megan.
»Syed und ich hatten Glück. Wir erholten uns rasch. Seit damals sind meine Augen empfindlich und ich gerate schnell außer Atem. Nichts von Bedeutung. Einen Monat nach dem Unglück lud eine kanadische Hilfsorganisation mich ein, über alles zu reden, Vorträge zu halten. Zwei ihrer Vertreter besuchten mich, sie hatten mich in einem Filmbericht im Fernsehen gesehen. Aber ich wollte nicht weg, ich wollte helfen. Noch immer starben Leute, jeden Tag. Syed hat mich schließlich überredet. Alle seine Freunde aus dem Restaurant waren tot: die drei Köche, die beiden Kellner, die beiden Jungen, die das Gemüse putzten und das Geschirrspülten, der Hund,
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