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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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mir bei, auf seiner Schreibmaschine, einer tonnenschweren Underwood, Briefe zu tippen. Bald verbrachte ich den ganzen Nachmittag und Abend bei ihm, hämmerte in die Tasten und nutzte die Pausen, in denen es nichts zu tun gab, um zu lesen. Er bezahlte mir einen anständigen Lohn für meine Arbeit, und irgendwann hörte ich auf, Essen auszutragen. Meine Mutter war zuerst nicht begeistert von meiner neuen Tätigkeit, aber als ich ihr jeden Sonntag den Wochenlohn auf den Tisch legte, änderte sie ihre Meinung. Wir wohnten in einem Zimmer über einer Werkstatt, in der Wannen, Eimer und Töpfe aus Blech hergestellt wurden, und ich war um jede Minute froh, die ich nicht dort verbringen musste. Jahawar und seine Frau Rachna waren zwar alt, aber ich hatte beschlossen, sie als meine Eltern zu betrachten. Ich drehte meine Welt einfach um, machte ausden beiden meinen Vater und meine Mutter und aus meiner Mutter und meinem Bruder zwei Fremde, bei denen ich nur meinen Schlafplatz hatte. Meiner Mutter schien das nichts auszumachen. Sie arbeitete vierzehn Stunden in der Näherei, wusch und flickte die Kleider von mir und meinem Bruder und versuchte mit mäßigem Erfolg, aus dem Loch, in dem wir hausten, eine menschenwürdige Unterkunft zu machen. Oft kam sie erst in der Nacht zurück, Finger und Rücken steif und die Augen, die eine Brille brauchten, rot und geschwollen. Dann war sie froh, wenn wir da waren und mein Bruder ein wenig Essen mitgebracht hatte und wir eine Stunde zusammensitzen konnten, bevor sie sich hinlegte.« Tanvir verstummte und sah eine Weile mit leerem Blick auf die Tischplatte, als habe er den Faden verloren. Er griff nach der Teetasse, blies hinein und trank einen Schluck, dann noch einen. Plötzlich hob er den Kopf und sah Megan an wie jemand, dem bewusst wird, dass er Gesellschaft hat. Mit einer hastigen Geste stellte er die Tasse hin. »Wollen Sie schlafen?«, fragte er. »Ich rede und rede, dabei sind Sie vielleicht müde. Müde wie meine Mutter nach tausend Metern Garn.«
    Megan lächelte. »Ich bin hellwach.«
    »Ich soll also weitererzählen?«
    »Ja.«
    Tanvir holte tief Luft, hielt sie einen Moment in der Lunge und atmete dann aus. »Fünf Jahre vergingen.« Er schnippte mit den Fingern, faltete die Hände. »Während ich größer wurde, schrumpfte meine Mutter. Ich wuchs zum jungen Mann heran, sie verkümmerte, war mit nicht einmal fünfzig eine alte Frau. Ihre Sehkraft ließ immer mehr nach, und ich kaufte ihr von meinem Ersparten eine Brille, aber da hatte sie ihre Stelle in der Näherei schon verloren. Sie musste nicht mehr arbeiten, ich verdiente genug Geld, und mein Bruder brachte jeden Tag etwas zu essen nach Hause. Meine Mutter schlief viel, trotz des Lärms aus der Werkstatt. Manchmal, meistens abends, wenn es kühler wurde, setzte sie sich auf ihren Holzschemel und nähte im Licht einer Laterne einen Knopf an mein Hemd oder flickte einen Riss in einem Kleidungsstück meines Bruders. Mit der Brille konnte sie wieder gut sehen, aber weil sie nie Lesen gelernt hatte und wir keinen Fernseher besaßen, blieb ihr als Zeitvertreib nur das Nähen. – Es beschämt mich noch heute, dass ich erst kurz bevorsie starb auf die Idee gekommen bin, ihr ein Buch zu geben. Eines mit vielen Bildern natürlich und wenig Worten. Das Exemplar, das ich ihr damals brachte, liebte sie über alles. Es war ein Band mit farbigen Zeichnungen von Bäumen und Blättern, von Blumen und Blüten, Früchten und Beeren. Ganze Nachmittage saß sie am Fenster, versunken in die Betrachtung eines Granatapfels, von dem sie nie zuvor gehört hatte, dessen Geometrie und Schönheit sie jedoch nicht nur zu erkennen, sondern auch zu bewundern schien. – Nach ihrem Tod wohnte ich bei Jahawar und seiner Frau, obwohl die beiden selber kaum Platz hatten zwischen all den Büchern. Ich schlief auf dem Dach unter einer Stoffplane, in der Regenzeit auf einer zusammengefalteten Decke in der Schreibstube. Ein Jahr verging, dann ein zweites und ein drittes. Ich fraß mich durch die Bücher, stopfte Wissen in mich hinein wie mein Bruder Essen. Ich übernahm den Tisch von Jahawar, der nicht mehr schreiben konnte, weil die Gicht seine Hände zusehends unbrauchbar machte. Als auch seine Augen immer schlechter wurden, gab ich ihm die Brille meiner Mutter, und er las seinen Kunden vor, aber er machte viele Fehler, fiel aus den Zeilen und musste ständig von neuem beginnen. Der Mann, den ich zu meinem Vater gemacht hatte, war alt gewesen, als ich ihm

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