Auf den Inseln des letzten Lichts
sie nicht.
Später ging sie zum Laborgebäude, wo sie Jay Jay und Nelson antraf, die sich zusammen einen Film über Baumriesen ansahen. Im Raum war es bis auf den Bildschirm und eine Kontrollleuchte am Videorekorder dunkel, der Ton war abgedreht und nur das ferne Summen des Generatorszu hören. Nelson verfolgte interessiert, wie die Kamera am Stamm eines Redwoods entlang bis hoch in die Krone stieg, und aß dabei Nüsse aus einer Schale, die er mit einer Hand gegen seinen Bauch drückte. Jay Jay beklagte sich über den betagten Orang-Utan, der morgens schon um sechs Uhr aufstand und keine Ruhe gab, bis er sein Essen bekam. Früher sei Nelson nie vor neun oder zehn Uhr wach geworden, sagte er in seinem holprigen Englisch und wollte wissen, ob man nichts gegen diese Entwicklung tun könne. Als Megan ihm erklärte, dass Primaten, ähnlich wie Menschen, mit zunehmendem Alter weniger Schlaf benötigten, da sie tagsüber kaum noch aktiv seien, sah Jay Jay sie aus schmalen Augen an und nickte resigniert. Um ihn aufzumuntern, schlug Megan vor, er solle mit Nelson abends noch etwas unternehmen, ihn mit Spaziergängen oder Spielen möglichst lange beschäftigen und müde machen, aber er sagte, Nelson sei nach Sonnenuntergang für nichts mehr zu haben, nicht einmal fernsehen wolle er dann noch.
Weil Jay Jay ihr leid tat, versprach Megan ihm, sich etwas zu überlegen. Dann ließ sie die beiden alleine und ging durch den Flur zur Abstellkammer. Dort nahm sie die Schreibmaschine, eine mechanische Olivetti, vom Kistenstapel und stellte sie auf den Tisch. Die Blechverkleidung wies dort, wo sie durch Beulen und Kratzer beschädigt war, rostige Stellen auf, dafür hatte sich das Farbband in der feuchten Luft gut gehalten. Die weißen Buchstaben, Zahlen und Zeichen auf den schwarzen Tastenköpfen waren durch die Benutzung teilweise abgeblättert, was sie aussehen ließ wie fremdartige Symbole. Im Bauch des Geräts hatten sich Staubflusen gesammelt, und Megan blies und schüttelte sie heraus. Dann spannte sie ein Blatt in die Maschine und drückte nacheinander alle Tasten, und schon bald wurde aus den harten Schlägen ein sanftes Klacken und aus dem lauten Rattern der Zahnräder ein leises Schnurren. Als das Blatt voll war, suchte sie nach Ersatzfarbbändern, fand aber nur Unmengen von Büroklammern, Klebeband, Radiergummis, Kugelschreibern, Notizzetteln und Karteikarten.
Sie hatte die Olivetti, einen Stapel Papier und ihre Notizhefte zum Strand getragen und aus ein paar Steinen und einem Brett einen Tisch gebaut. Jetzt saß sie angelehnt an einen Baum im Schatten und las den Text durch,den sie in Manila geschrieben hatte. Unter der Matratze in ihrem Zimmer lagen einhundertsiebzig Seiten eines ersten Entwurfs, aber eigentlich wusste sie noch immer nicht, was genau sie da machte. Vielleicht schrieb sie tatsächlich ein Buch über ihre Kindheit. Vielleicht war das alles auch nur der klägliche Versuch, sich über das Vergehen der Zeit hinwegzutrösten. Noch immer gefiel ihr der Klang ihrer Worte, die Melodie ihrer Sätze, doch hatte sie keine Ahnung, ob aus der Summe Musik wurde, etwas, das jemanden zu bewegen vermochte, wie es ein Song von Ella Fitzgerald tat oder eine Sonate von Chopin, und ob es darum überhaupt ging.
Sie kniff die Augen zusammen und sah aufs Meer hinaus. Ihr Nacken hatte sich entspannt, die Kopfschmerzen waren verschwunden. Sie überlegte, Ester einen Brief zu schreiben, und entwarf in Gedanken so lange immer wieder den ersten Satz, bis ihr der Grund für den Brief entfallen war. Wolken lagen auf dem Horizont, schwere Kühe am Ende einer Weide. Sie wollte nicht an Tobey denken und daran, wie sehr sie ihn vermisste, nicht an ihren toten Vater und nicht an Cait, die das Fehlen des weißen Handschuhs wahrscheinlich nie bemerkt hatte. Das Meer war eine endlose Fläche und gleichzeitig ein finsterer Kosmos voller Schönheit und Müll, Leben und Tod. Wie einfach es war, traurig zu sein, dachte sie, und wie leicht es einem auf dieser Insel fiel, sich verloren zu fühlen, ohne es wirklich als Schmerz zu empfinden. Sie spannte ein Blatt Papier in die Maschine. Sie musste den weiten Weg zurückgehen, die Tür zu ihrem Kinderzimmer öffnen und die Bilder einsammeln, bevor sie verblassten. Die Buchstaben waren seitenverkehrte Metallreliefs, die gegen ein mit schwarzer Farbe getränktes Stoffband schlugen. Erst auf dem Weiß des Papiers wurden sie zu Wörtern und erhielten eine Bedeutung. Manche leuchteten. Der Stapel, von
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