Auf den Inseln des letzten Lichts
der im Hinterhof geduldig auf einen Knochen gewartet hatte. Er konnte das Elend nicht ertragen, er schlief kaum noch, nicht einmal beim Essen fand er Trost. Wir flogen nach Toronto, und ich redete vor Politikern und Intellektuellen, vor Wissenschaftlern und Ärzten, vor Chemiestudenten und Umweltaktivisten, vor Hausfrauen, Exilindern, Schülern, Gewerkschaftern, kirchlichen Gruppen. Sogar ein Altersheim besuchte ich, aber die Leute waren enttäuscht von meinem Vortrag. Die Heimleitung hatte etwas durcheinandergebracht und mich als Bauchredner angekündigt.« Tanvir lachte kurz auf. In seinen Augen lag ein harter Glanz, seine Hände blieben keinen Moment still. Er stand auf und schien vergessen zu haben, was er wollte, rieb sich den Kopf.
»Was war mit Sita?«
Tanvir sah Megan an, als habe er sie nicht verstanden. Er legte die Hände auf die Stuhllehne. Schließlich sagte er: »Sie starb in der ersten Nacht. Rahul in der zweiten.«
Eine Weile schwiegen die beiden. Hörte sie genau hin, konnte Megan das leise Trommeln der Motten hören, die mit den Flügeln gegen die Fensterscheiben schlugen.
Irgendwann setzte Tanvir sich wieder hin. »Nun«, sagte er, »Syed lernte während einer Reise nach Boston eine Frau kennen, Evelyn. Sie arbeitete als Sekretärin des Dekans, der mich für einen Vortrag an sein College eingeladen hatte. Syed begleitete mich auf allen Reisen, wir wollten beide nicht alleine sein. Drei Monate später heirateten sie. Ich tingelte noch eine Weile mit meinem Unglück im Gepäck durch die Welt, warb für Spenden und tat mein Bestes, die Gruppen zu unterstützen, die einen Prozess gegen Union Carbide anstrengten. Amerikanische Staranwälte rissen sich darum, die Opfer zu vertreten, gegen eine satte Beteiligung an den zu erwartenden Entschädigungszahlungen natürlich. Doch bevor irgendjemand angeklagt wurde, handelte Union Carbide mit der indischen Regierung einen Deal aus und zahlte zweihundertvierzig Millionen Dollar an die Betroffenen. Wie viel von dem Geld in den Taschen korrupter Politiker und Beamter verschwand, will ich mir gar nicht vorstellen. Jedenfalls war Union Carbide damit vom Haken. Ein ehemaliger Nachbar von mir erhielt eine einmalige Zahlung von zehntausend Rupien, das waren damals um die hundert Dollar. Die meisten aus meiner ehemaligenStraße bekamen überhaupt nichts. – Nach einem halben Jahr Kanada flog ich zurück nach Indien. In Bophal arbeitete ich drei Jahre in einem Krankenhaus außerhalb der verseuchten Zone. Ich wohnte mit anderen Ärzten in einem Neubau, mein Zimmer war ganz oben, im achten Stockwerk, ich hielt das Sonnenlicht kaum aus. Nachts sahen wir uns zusammen Kricketspiele und Quizsendungen im Fernsehen an. Wir tranken alle ziemlich viel, redeten aber nicht darüber. Auch über unsere Arbeit redeten wir nicht. Als ich an einem Tag zwei tote Säuglinge in den Händen hielt, bin ich nach Hause gegangen und habe meine Kündigung geschrieben. Ich war am Ende. Ich schlief nicht mehr. Ich nahm Tabletten und träumte alles noch einmal, immer wieder. Die Blinden. Die verätzte Haut, die manchmal wie Perlmutt schimmerte. Das Keuchen der Kinder mit den zerfressenen Lungen. Die Gesichter der werdenden Mütter, die schon wussten, was ich sagen würde, bevor ich den Mund aufmachte. Die verkrüppelten Föten, vom Gift aus den Bäuchen geschwemmt und so wenig menschlich wie die Hundewelpen in den Rinnsteinen. Die Gesichter der Politiker und Pressesprecher.« Tanvir starrte auf die Tischplatte. Dann holte er tief Luft, um sie wenig später mit einem Ächzen aus sich herauszulassen. »Ich bin nach Kanada gegangen, später nach Amerika. Eine Zeitlang habe ich noch versucht, Spenden zu sammeln. So kam ich mit Nancy Preston in Kontakt. Ihre Stiftung war sehr großzügig. Bei einem Vortrag in Houston haben wir uns kennengelernt und wurden Freunde. Sie erzählte mir von IPREC, und ich war begeistert. Ich wollte eine Weile möglichst wenig mit der Welt zu tun haben, und die Insel schien mir ein geeigneter Ort dafür zu sein.«
»Und Ihr Bruder?«
»Syed und Evelyn leben noch immer in Boston. Wir haben uns seit über zehn Jahren nicht gesehen.« Tanvir nickte, seufzte, dann erhob er sich und trug seine Tasse zum Spülbecken.
Megan stand ebenfalls auf. Ihr Kopf fühlte sich schwer an vom Zuhören. Sie trank den letzten Schluck Tee und ging zu Tanvir, der ihr die Tasse aus der Hand nahm, um sie zu spülen. »Danke«, sagte sie und berührte flüchtig seinen Arm. »Für die
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