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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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die technische Einrichtung vorsintflutlich, doch hatte es einen Innenhof mit einer Rasenfläche und Bäumen und einem Wasserbecken, in dem unter Seerosenblättern bunte Fische schwammen. Die Arbeit war hart und die Bezahlung schlecht, aber ich lebte bescheiden. Meine einzigen Besitztümer, das Haus ausgenommen, waren die Schreibmaschine und das gebrauchte Rad, das ich gekauft hatte, um zur Universität zu fahren. – Träumte ich noch von einem Auto, einem silbernen Mercedes mit getönten Scheiben, hinter denen es still und kühl war und nach Leder roch statt nach Fäkalien und Unrat? Die Antwort lautet: Ja. Aber dieser Traum war zu einem Gedanken vor dem Einschlafen geworden, zu einem flüchtigen Bild, einer Spielerei. Er trieb mich nicht mehr durch die Nacht, um mich mit dem Gefühl qualvoller Leere erwachen zu lassen. Ich musste meine Eltern nicht mehr aus ihrem armseligen Leben herausholen, ich musste nicht mehr von irgendwo weg, um irgendwo anders anzukommen, wo alles besser war, sauberer und weniger beschämend. Ich hatte neue Interessen. Eines davon galt einer Krankenschwester. Sie hieß Sita, war jung und wunderschön. Und verheiratet. Ihr Mann fuhr den Ambulanzwagen. Er war zehn Jahre jünger und einen Kopf größer als ich. Wenn irgendwo ein Unfall geschah, raste er mit quietschenden Reifen und Sirenengeheul los, und die Leute sprangen zur Seite, um nicht unter die Räder zu geraten. Sein Name war Rahul, und er liebte die Geschwindigkeit, das Schlingern in den Kurven und das Aufjaulen des Motors. Mehr als einmal saß ich hinten in seinem Wagen und fürchtete um mein Leben und das des Unfallopfers, und mehr als einmalwünschte ich mir, Rahul würde gegen eine Wand fahren und sterben. Aber er fuhr nicht nur sehr schnell, sondern auch sehr gut, und er tat mir den Gefallen nicht, abzutreten und eine trauernde Witwe zurückzulassen, die Trost brauchte und einen neuen Mann. Nach etwa einem Jahr war ich des Wartens müde und schrieb Sita einen Brief, in dem ich ihr meine Liebe gestand und ihr vorschlug, mit mir durchzubrennen und woanders ein neues Leben zu beginnen. – Habe ich erwähnt, dass ich zu diesem Zeitpunkt fast vierzig Jahre alt war? Und meine große Liebe gerade einmal zwanzig? Noch jetzt, nach so langer Zeit, krampft sich mein Magen zusammen, wenn ich an den Moment denke, als Sita mir klarmachte, wie vermessen und unangebracht mein Antrag sei und wie ernst sie die Verpflichtung nehme, die sie mit der Heirat eingegangen sei, auch wenn oder gerade weil es sich um eine arrangierte Ehe handelte. Ob ich beim Verfassen meiner törichten Zeilen auch nur eine Sekunde an das Leid gedacht hätte, das wir mit unserer Tat verursachen würden, wollte sie wissen. Ob mir gleichgültig sei, wenn ihre Eltern und Schwiegereltern nach unserem schändlichen Verrat in Trauer und Scham versinken würden, fragte sie mich. Und ich, ich sagte ja, das sei mir gleichgültig, ich wolle mit ihr den Rest meines Lebens verbringen, und der beginne jetzt, in diesem Augenblick, und dann küsste ich sie, und sie gab mir eine Ohrfeige, keine sehr heftige, eher die einer Lehrerin, die einen Schüler schlägt, der eigentlich ihr Liebling ist. – Nun, nach diesem Vorfall verließ ich das Krankenhaus für immer. Ich ging zurück in meine Schreibstube und las den Leuten Nachrichten von Tanten und Onkeln und vom Gewerbeamt vor und neue Steuergesetze und Zeitungsartikel und Gebrauchsanweisungen, und ich tippte Briefe für sie, alles Mögliche, nur keine Liebesbriefe. Und ich beriet sie in Gesundheitsfragen. Ein Mann, für den ich etwas ins Englische übersetzte, hatte eine offene Wunde am Bein, die eiterte, und ich wusch sie aus und verband sie. Einer alten Frau, die mir einen Brief an ihren Sohn in Australien diktierte, habe ich den gebrochenen kleinen Finger geschient. So fügte sich eines zum andern, und irgendwann kamen die Leute nicht mehr nur zu mir, weil sie etwas zum Vorlesen, Schreiben oder Übersetzen hatten, sondern auch weil sie ein entzündetes Auge plagte, ein verstauchter Fuß oder ein verdorbener Magen. Diese Leute hatten nicht viel Geld, reich wurde ich also nicht, aber ich war dennoch zufrieden, auf eine seltsameWeise beinahe glücklich. Ich war über mich selber erstaunt. Als kleiner Junge wollte ich ein Arzt im strahlend weißen Kittel werden und Menschen den Klauen des Todes entreißen, wollte in Mumbai leben, ein großes deutsches Auto fahren und ganz oben in einem Wolkenkratzer wohnen, weit weg vom Dreck und Gestank,

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