Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
Vom Netzwerk:
zum ersten Mal das Essen brachte, und jetzt war er ein Greis. Mein Kopf wurde immer schwerer, seiner schien an Gewicht zu verlieren, als müsste der angelesene Ballast abgeworfen werden vor der nahenden Reise. Er starb im Sommer, im selben Monat wie meine Mutter vier Jahre zuvor. Rachna, seine Frau, wollte, dass ich bei ihr blieb, und das tat ich auch. Ich kaufte für sie ein, ich kochte, ich putzte, ich las ihr vor. Dazwischen, von elf bis um vier, hielt ich die Schreibstube offen. Nachts, wenn die Hitze und der Lärm der Stadt mich nicht schlafen ließen, studierte ich medizinische Fachliteratur. Ich wollte noch immer Arzt werden, müssen Sie wissen, diesen für einen Bauerntrampel verwegenen Traum hatte ich nicht aufgegeben. – Kein halbes Jahr später starb auch Rachna, die ohne ihren Mann nicht mehr sein wollte. Sie und Jahawar hatten keine Kinder, und so vererbten sie mir ihr Haus. Mein Bruder wohnte damals in einem winzigen Zimmer über dem Restaurant, in dem er arbeitete, und ich lud ihn ein, zu mir zu ziehen. Er war mittlerweile über dreißig und wog einhundertzehn Kilo. Er hörte gern Musik, indische Folklore, und bald war das Haus erfüllt davon. Erwohnte oben, wo noch das Bett von Jahawar und Rachna stand, und eines Tages fragte er mich, ob ich ihm das Lesen beibringen würde. – Mein Bruder konnte nicht lesen! Die ganzen Jahre über war ich so beschäftigt damit gewesen, ein intelligenter Mensch zu werden, dass ich diese Tatsache nicht wahrgenommen hatte. Ich hatte mich nie gefragt, was er in seiner Freizeit machte, wie wohl seine Träume aussahen, ob er glücklich war oder nicht. Fast ein Jahr dauerte es, bis Syed lesen konnte. Schreiben lernte er auch, aber seine Hände waren riesig und plump, der Stift verschwand in seiner Pranke. Ich hatte heimlich gehofft, er würde mir eines Tages im Geschäft helfen, doch er war zu langsam und seine Schrift unleserlich. Dafür verschlang er die Bücher, von denen er in seinem breiten Bett umstellt war. Als er mit allen indischen Werken durch war, bat er mich, ihm Englisch beizubringen, und nach einem weiteren Jahr traute er sich an den Rest der Bibliothek. – Das waren schöne Jahre. Syed brachte abends das Essen, und bei gutem Wetter saßen wir auf dem Dach, füllten uns die Bäuche und redeten über Bücher. Syed las am liebsten Biografien berühmter Menschen: Diogenes, Marc Aurel, Da Vinci, Kolumbus, Napoleon. Er tauchte nicht nur gerne in fremde Leben ein, er schien auch hinter diesen historischen Figuren, wie soll ich sagen, in Deckung zu gehen, sich zu verstecken vor einer Welt, die ihm oft mehr Mut abverlangte, als er aufbrachte. Er war sehr schüchtern, müssen Sie wissen. Als Kind war er still gewesen, schweigsam wie unsere Eltern, und als er erwachsen wurde, musste er plötzlich reden, musste Fragen beantworten und den Mund aufmachen, wenn er etwas wollte. Ich weiß nicht, ob er aus Kummer angefangen hat so viel zu essen. Vielleicht war es auch nur, weil er es liebte, wie er Musik liebte. Oder weil er in diesem Restaurant arbeitete, wo es den ganzen Tag nach Speisen roch. Einmal, als wir eine Matratze auf das Dach schleppten und er völlig außer Atem war, fragte ich ihn, ob er nicht abnehmen wolle, und er meinte, das würde nicht gehen, weil er dann weniger essen müsste. Also blieb er dick, machte sich aber offenbar nicht viel daraus. Mit einer Frau hatte er noch nie etwas gehabt, das vertraute er mir in einer Nacht an, in der wir beide von zu viel Bier redselig geworden waren. Er meinte, das sei besser so, Frauen brächten nur Unruhe und Zank und fragwürdige Rezepte ins Haus. Außerdem fühle er sich nicht alleine, denn er habe ja das Essen unddie Musik und die Bücher und mich. Ich pflichtete ihm bei, weil ich ihn nicht verletzen wollte und in Liebesdingen selber noch gänzlich unerfahren war und Trost brauchte. – Nun ja, so vergingen wieder ein paar Jahre. Die Welt drehte sich, aber sie drehte sich ohne mich und meinen Bruder, und wir redeten uns weiterhin ein, es sei besser so. Syed wurde vom Gehilfen zum Koch, und ich kaufte mir eine neue Schreibmaschine, eine Royal Arrow mit sanfter, uhrwerksgleicher Mechanik. Als ich genug Geld auf die Seite gelegt hatte, drückte ich noch einmal die Schulbank, und mit einunddreißig begann ich ein Medizinstudium, das ich sechs Jahre später abschloss. Mein Praktikum machte ich in einem kleinen Krankenhaus, das nur fünf Querstraßen von unserem Haus entfernt lag. Es war baufällig und viel zu klein und

Weitere Kostenlose Bücher