Auf den Inseln des letzten Lichts
Museumswärter nach Feierabend.
Irgendwann, Tobey war beinahe weggedämmert, stand das Essen auf dem Tisch. Rosalinda, die zwischen Tanvir und Chester saß, faltete die Hände, senkte den Kopf und sprach ein Gebet. Tobey sah in die Runde und traute seinen Augen nicht: alle, auch Montgomery und Chester, schienen zu beten. Chester saß mit krummem Rücken da, die Lippen geschürzt und die Augen geschlossen. Um seinen Hals hing, mit Wäscheklammern an einer Schnur befestigt, eine weiße Papierserviette. Rosalindas Tischgebet war lang, und obwohl Tobey kein Wort davon verstand, kam es ihm theatralisch vor und voll kindlichen Eifers. Nachdem Rosalinda verstummt war und die beiden Philippinos ein Amen gemurmelt und sich bekreuzigt hatten, hob Tanvir zu etwas an, das kurz und emotionslos warund eher wie ein Rapport klang als ein Dank oder eine Bitte. Dann war es still, und Tobey, dem vor Müdigkeit die Augen zufielen und das Kinn auf die Brust sank, blickte hoch und sah sechs Augenpaare auf sich gerichtet. Seine Arme hingen tonnenschwer herunter, und er beeilte sich, die Hände auf den Tisch zu legen und zu falten. Rosalinda zog eine Braue hoch und atmete geräuschvoll aus.
»Nur, wenn Sie möchten«, sagte Tanvir.
Tobey merkte, wie sich seine Eingeweide zusammenkrampften. Er war sechs Jahre alt, saß mit seinem Vater am Tisch und hörte ihm zu, wie er mit Gott redete, wie er ihm Vorwürfe machte, wie er mit ihm lamentierte und feilschte, wie er ihm drohte. Und er hörte Megan, die auf dem Hügel hinter dem Haus saß und sich die Seele aus dem Leib schrie, weil wieder eines ihrer Tiere geschlachtet worden war und jetzt als verkochtes Fleisch auf den Tellern lag.
»Lieber nicht«, sagte er und räusperte sich verlegen. Er hatte seine eigene Stimme nicht gehört. »Lieber nicht«, wiederholte er etwas lauter.
»Vielleicht ein andermal.« Tanvir zog eine Schüssel mit Reis zu sich heran und begann, seinen und Tobeys Teller zu füllen.
Das war das Zeichen für die anderen, sich ebenfalls zu bedienen. Die beiden Philippinos griffen zügig und konzentriert zu, und Rosalinda sorgte dafür, dass Chester etwas bekam und die Schüsseln bei Montgomery landeten, der am Tischende saß und geduldig wartete, bis er an der Reihe war.
Während des Essens wurde nicht geredet, nur Chester ließ hin und wieder ein zufriedenes Ächzen hören. Es gab Reis, Gemüse und Huhn, dazu Fladenbrot. Alle tranken eiskaltes Wasser, das mit Ingwer angesetzt war. Chester aß mit einem Löffel, Montgomery, auf dessen Teller kein Hühnerfleisch lag, mit Messer und Gabel. Tobey hatte Mühe, zu kauen. Die Zunge tat wieder weh und war im Weg, geschwollen und stumpf schien sie den ganzen Mund auszufüllen. Aber er war hungrig, spülte jeden Bissen mit Wasser herunter und schaffte so den ganzen Teller. Die Hoffnung, nicht umgebracht zu werden, erschien ihm mit jeder Minute berechtigter, und er entspannte sich ein wenig. Vielleicht ein andermal. Der Satz hallte in Tobey nach, er klang nach Sicherheit, nach Zukunft.
Später ging Tanvir mit Tobey im Schein einer Petroleumlampe zur Krankenstation, die am anderen Ende der Baracke lag. Sie bestand aus einem Raum mit zwei Feldbetten und einer türlosen Abstellkammer voller Kisten, Wolldecken, Tragbahren und Krücken. Er gab Tobey eine desinfizierende Lösung zum Spülen, damit die Zunge sich nicht entzündete, eine Flasche Mineralwasser und ein halbes Dutzend Schmerz- und Schlaftabletten, die er in eine leere Streichholzschachtel abzählte. Er tupfte Tobeys Wunden mit einer Alkohollösung ab, wechselte die Verbände und klebte ein frisches Pflaster auf die Einstichstelle der Nadel.
»Davon haben Sie nichts mitbekommen, wie?«
Tobey schüttelte den Kopf.
»Kochsalzlösung. Habe ich Ihnen verpasst, als Sie schliefen.«
»Wie haben Sie mich hergebracht?« Tobey klang, als habe er den Mund noch voller Reis und Eintopf.
Tanvir lächelte. »Wir haben Sie in der alten Lagerhalle gefunden. Sie waren ohnmächtig und vollkommen dehydriert.«
»Wer sind die beiden Männer?«
»Miguel und Jay Jay. Sie arbeiten hier.«
»Und Sie?«
Tanvir verschloss die Flasche mit der Tinktur und ging zu einem Schrank. »Morgen machen wir einen Rundgang.« Er stellte die Flasche auf ein Regal und nahm eine andere in die Hand, eine durchsichtige, medizinisch aussehende. »Trinken Sie?« Er drehte sich zu Tobey um und grinste. »Keine Angst, es ist Gin.«
Tobey überlegte. Dann schüttelte er den Kopf.
»Schade. Bleibe ich der
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