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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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der Draht unter dem Plastikmantel ließ sich nicht durchtrennen, und als die Haut unter der Fessel zu bluten begann, gab sie auf. Im Rucksack suchte sie nach einem Messer und fand das Walkie-Talkie, eine Sonnenbrille, zwei Packungen Zigaretten, einen Schokoladenriegel, eine kleine Taschenlampe, ein Feuerzeug, ein Bündel Dollarscheine und einen französischen Pass in einer Tupperdose, eine leere Schachtel Schmerztabletten, einen Kugelschreiber und ein Notizheft. Sie zählte das Geld, siebenhundert Dollar in Fünfern, Zehnern, Zwanzigern und Fünfzigern. Das Foto im Pass zeigte das bleiche, runde Gesicht eines Mannes, dem es unangenehm ist, fotografiert zu werden. Guillaume Maurice Malpass, las Megan, geboren am fünften Oktober neunzehnhundertvierundfünfzig in Lille, Frankreich, Größe ein Meter vierundsiebzig, Gewicht dreiundneunzig Kilo. Sie fing wieder an zu weinen, aber dann nahm sie sich zusammen, aß zwei Bissen von dem Schokoriegel, hängte sich den Rucksack um und stand auf.
    Sie trat mit dem Fuß gegen die Türen mehrerer Baracken, enttäuscht, dass sie keinen Alarm auslöste. Der Regen wurde stärker und trommelteauf das Blech der Dächer. Sie schlug eine Richtung ein, in die kein Weg führte, watete durch einen Sumpf und musste umkehren, als es an einer Barrikade aus Dickicht kein Weiterkommen gab. Kleine graue Vögel schwebten an ihr vorbei wie die Punkte, die vor ihren Augen tanzten, wenn sie unsagbar müde war.
    Irgendwann setzte sie sich unter einem Baum auf den Boden und überlegte, wohin sie eigentlich wollte. Zum Strand, dachte sie, ohne sagen zu können, was sie dort tun würde. Sie nahm das Walkie-Talkie aus dem Rucksack, drehte an den Knöpfen und warf es, als es nur Rauschen und Knistern von sich gab, hinter sich ins hohe Gras. Sie ging weiter, suchte den Himmel nach Rauch ab, aber im alles verwischenden Regen sah sie nichts mehr und landete wieder bei den Baracken. Bis sie merkte, dass es andere Gebäude waren als die, gegen deren Türen sie getreten hatte, war sie schon fast an ihnen vorbeigegangen. Sie drehte sich um und sah vier auf Betonpfählen ruhende Bauten, jeder etwa zwanzig, vielleicht dreißig Meter lang, die fensterlosen Wände mit hellen Kunststoffelementen verkleidet und die flachen Dächer vollgepfercht mit Solaranlagen, Lüftungsröhren, Wassertanks und Lichtschächten aus Plexiglas. Hier waren die Türen nicht mit Zahlen beschriftet, sondern mit Buchstaben, A bis D.
    Unter den Gebäuden verliefen Kunststoffrohre, schwarze und rote, von denen die meisten in der Erde verschwanden. Alle fünf Meter ragte ein schwarzes bis an den Rand der Baracke. Megan beugte sich zu einem hinunter und horchte, aber aus der vergitterten Öffnung mit dem Durchmesser eines Lenkrads kam kein Geräusch, das lauter gewesen wäre als das Brummen der Generatoren. Dafür nahm sie einen vertrauten Geruch wahr; trotz des Regens und des Windes und trotz des Diesels und feuchten Moders in der Luft roch sie Tiere.
    Sie suchte einen Stein, der in ihre Hände passte, und schlug damit auf das elektronische Schloss an einer der Stahltüren ein, schaffte es aber lediglich, die Blechverkleidung zu zertrümmern und ein paar farbige Drähte freizulegen, mit denen sie nichts anfangen konnte. Als weder die Tür sich aufgrund eines Kurzschlusses öffnete noch ein Alarm losging, setzte sie sich auf die Treppe und aß den Rest des Schokoriegels. Dann erhob sie sich, warf den Stein gegen die Fassade und ging ans andere Endeder Baracken, wo sie im hohen Gras einen Weg fand und beschloss, ihm zu folgen.
     
    Die Gestalt, die sich vor ihr aus dem wässrigen Nebel, zu dem der Regen wieder geworden war, löste, sah von weitem aus wie eine Blume. Zu müde, um wegzurennen, blieb Megan stehen und betrachtete die gelbe Blüte, die im Wind leicht hin und her schwankte und sich beim Näherkommen als der Schirm entpuppte, den sie am Vorabend neben Raskes Haustür vergessen hatte.
    Ester blieb ebenfalls stehen. Ihr Gesicht war bleich, aber möglicherweise lag das am Licht und an der dunkelblauen Hose und dem T-Shirt in derselben Farbe. Ein Aluminiumkoffer in der Größe, wie sie im Flugzeug für Handgepäck erlaubt war, hing an ihrer Schulter, in der Hand, die nicht den Schirm hielt, schimmerte eine Pistole.
    Megan fand als erste die Sprache wieder. »Und jetzt?«, fragte sie.
    Ester sagte nichts, zuckte nicht einmal mit den Schultern.
    »Was ist in dem Koffer?«
    »Nichts«, antwortete Ester tonlos.
    »Gehst du zu den Affen?«
    Noch

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