Auf den Inseln des letzten Lichts
immer schwieg Ester.
»Kann ich mitkommen?«
Ester schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Es ist …« Ester verstummte, sah zu Boden.
»Was?«
Ester hob den Kopf. »Du darfst das nicht sehen.«
Megan spürte, wie sich ihr Unterleib zusammenzog, als füllte eiskaltes Wasser oder heiße Säure ihren Magen. Die kleinen grauen Vögel der Müdigkeit flatterten vor ihr, und sie schloss für einen kurzen Moment die Augen, öffnete sie wieder und sah, wie es dunkel über ihr wurde und große, von keinem Wind bewegte Tropfen herabfielen. Sie dachte an den Ofen und die blutigen Säcke und zuckte unwillkürlich mit dem Kopf, als die Fliegen sie umschwirrten.
Ester ging auf Megan zu und stand plötzlich so nahe vor ihr, dass der Schirm beide Frauen bedeckte. »Wer hat das getan?«, fragte sie.
»Malpass«, sagte Megan abwesend, als erinnerte sie sich an ein lange zurückliegendes Ereignis, das jede Bedeutung verloren hatte.
Ester steckte die Pistole in den Hosenbund, stellte den Koffer ab und klemmte den Griff des Schirms in die Armbeuge, dann löste sie die Knoten, einen nach dem anderen.
Megan sah ihr zu. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder einen Schritt zu gehen, so erschöpft war sie. Sie sah den baumelnden Stecker an ihrem Handgelenk und fühlte sich wie eine Maschine, die man vom Strom getrennt hatte. Als ihre Hände frei waren, wusste sie nicht, wohin damit. Das Geräusch des Regens, der auf den Schirm schlug, kam ihr ohrenbetäubend laut vor.
Ester wickelte das Kabel sorgfältig auf, doch plötzlich schien ihr die Absurdität ihres Tuns bewusst zu werden, und sie ließ es auf den Boden fallen. Einen Moment lang stand sie da wie jemand, der bei einer großen Dummheit ertappt wurde, dann machte sie einen halben Schritt nach vorne, und nach einer Sekunde des Zögerns umarmte sie Megan voll verzweifelter Heftigkeit.
Megan ließ es geschehen. Alleine der Gedanke, sich zu wehren, ermattete sie. Sie spürte Esters Herzschlag an ihrer Brust, dafür den eigenen nicht mehr.
»Was machst du hier?«, flüsterte Ester. Der Schirm war zur Seite gekippt, der Regen durchnässte sie innerhalb weniger Augenblicke.
»Zeig mir die Affen«, sagte Megan ruhig, griff wie in einem Traum nach der Pistole und hielt Ester den Lauf an die Schläfe.
Ester lockerte die Umarmung, ließ Megan aber nicht los.
»Nein«, sagte sie nach einer Weile, während der sie und Megan regungslos dagestanden waren, ein seltsames Tanzpaar, das auf Musik wartet.
Megan machte sich los, trat einen taumelnden Schritt zurück, zielte mit der Waffe in die Luft und drückte ab. Als nichts passierte, sah sie die Pistole an und erinnerte sich vage an einen Sicherungshebel, und als sie danach suchte, wurde sie von Ester gepackt und zu Boden geworfen. Sie lag auf dem Rücken und streckte den Arm mit der Waffe aus, mit dem anderen wehrte sie Ester ab. Sie schloss die Augen, und es war wie damals, wenn ihr Bruder keuchend auf ihr gelegen hatte, um ihr etwas aus derHand zu reißen, nichts Wertvolles, ein beliebiges Ding, das ihm einen Grund gab, mit ihr zu kämpfen, seine wachsende Kraft an ihr zu messen und ihr seine Verwirrung, seinen Hass und seine Liebe auf den Körper zu drücken, ein geheimes Muster aus blauen Flecken. Sie war immer stärker gewesen und hatte Tobey doch seinen Triumph gelassen, seine jämmerliche Beute in Form eines Apfels, eines Buntstifts, einer Muschel und der trotzigen Gewissheit, einen Sieg errungen zu haben.
Der Schuss klang, als hinge die Welt an einem Seil, das riss.
Einen entsetzten Atemzug lang ließ der Knall Megan und Ester erstarren, dann wälzte Megan sich zur Seite und stemmte sich auf die Beine. Sie zitterte, ihr Kopf dröhnte, und jeder Regentropfen, der sie traf, brachte sie ins Schwanken. Sie richtete die Waffe auf Ester.
»Ich will sie sehen«, sagte sie.
Ester blieb liegen. »Du schießt nicht.« Ihre Stimme war so klar wie ihr Blick. Eine Sandale war von ihrem Fuß gerutscht und lag neben ihr in einer Lache aus braunem Wasser.
Megan ließ den Arm sinken, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Das Projektil flog noch immer durch den Himmel, ein kleines, glühendes Stück Metall, das, als die Energie der Explosion verbraucht war und der Widerstand der Luft zu groß wurde, an Geschwindigkeit und Höhe verlor und lautlos ins Meer tauchte und auf den Grund hinabsank in die Dunkelheit, ohne jemanden getötet zu haben.
Sie sah Ester an und setzte sich die warme Pistolenmündung an den Kopf.
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