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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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andere klein und blond. Die Große, Ältere trug einen khakifarbenen Hosenanzug, die Kleine einen weißen Kittel wie eine Ärztin. Tobey drehte das Bild um, aber die Rückseite war bis auf ein paar Flecken leer.
    Bei den nächsten zwanzig Seiten handelte es sich um noch mehr Listen mit unzähligen Codes, Befunden von Probanden, Statistiken, Auswertungen von Blutanalysen, Berichten über Fortschritte und Misserfolge bei der Erprobung neuer Testverfahren, über den Bedarf an sogenanntem Versuchsmaterial: Schimpansen und Bonobos, aber auch Rhesus-, Javaner- und Schweinsaffen.
    »Wer ist das?« Tobey hielt ein Polaroidfoto in der Hand, auf dem ein etwa zehnjähriges dunkelhäutiges Mädchen nackt, schmutzig und mitverfilztem Haar am Boden kauerte und etwas aß. Auf die Rückseite hatte jemand einen Namen geschrieben: LARA.
    »Wer ist Lara?«
    Montgomery schüttelte den Kopf.
    Tobey schlug den Ordner auf und zeigte auf das Wort sehen und dann auf Montgomery und das Foto. Wieder schüttelte der Bonobo den Kopf und ließ Tobey im Unklaren, ob er nicht wusste, wer das Mädchen war, oder nicht verstand, was Tobey ihn fragte.
    Das nächste Blatt, zerknittert und fleckenübersät, war die Skizze einer Insel, die Tobey bekannt vorkam, obwohl es nicht die war, auf der er sich befand. Einen Hügel suchte er vergeblich, dafür entdeckte er am unteren Rand der mit grünem Buntstift gezeichneten Insel, dort, wo sie ans Meer grenzte, einen schwarzen Kreis, neben dem das Wort SCHIFFSWRACK stand. Tobey wusste gleich, dass das die Stelle war, wo ihn die drei Männer mit dem Boot abgesetzt hatten. Er fand die Lagerhalle, in der er geschlafen hatte, und die Hütte, in der er niedergeschlagen worden war. In einem großen Rechteck stand WERKSTATT. Das musste der zweite, hohe Wellblechschuppen sein, der, vor dem der Traktor in seine Einzelteile zerfiel. Es gab noch andere Rechtecke, nicht mit schwarzem, sondern rotem Kugelschreiber gezeichnet und durchgestrichen. Eines war mit LABOR angeschrieben, ein anderes mit BESUCHERZENTRUM. Etwas abseits dieser Ansammlung von Gebäuden, in einem durch hellgrüne Kringel angedeuteten Wald, fand Tobey zehn kleine schwarze Rechtecke, unter denen PRIMATEN und PFLEGER stand. Er erinnerte sich an Überreste von Gebäuden, an Betonfundamente, eingefallene Mauern, Steine und Balken, die unter wuchernden Pflanzen fast verschwunden waren. Die beiden Häuser im Wald hatte er bei seiner Inselerkundung offenbar übersehen.
    Montgomery legte ihm eine weitere Liste voller Codes und unverständlicher Einträge hin, noch mehr Dokumente, deren Inhalt ihm ein Rätsel war, noch mehr vor Fachbegriffen strotzende Testberichte, in denen es um Blut zu gehen schien, noch mehr Statistiken, Tabellen, Fußnoten.
    Nachdem Tobey die letzte Seite, eine Karte Afrikas mit hunderten farbiger Punkte, deren Sinn keine Legende erklärte, umgedreht hatte, erhob sich der Bonobo, nahm den Stapel, wickelte ihn in die Folie, banddie Schnur darum und tat ihn zurück in das Versteck im Sesselboden. Tobey stand ebenfalls auf. Er streckte sich, merkte, wie unausgeschlafen und durstig er war. Mattes Licht fiel durch das Fenster. Für einen Moment schloss er die Augen. Wörter flirrten durch seinen Kopf, Sätze, Codes, und, hell wie Blitze, die sekundenlang alles erleuchteten, Bilder: das am Boden zusammengekauerte Mädchen, der lächelnde blonde Mann, der abgemagerte Schimpanse.
    Als Montgomery ihn an der Hand nahm und aus dem Zimmer führte, ging er mit, Müdigkeit und Durst vergessend; ein schläfriges Kind, verwirrt von einer Geschichte, die es nicht verstand.
     
    Das Haus wirkte im fahlen Morgenlicht noch ein wenig schäbiger als an dem Tag, als Tobey es zum ersten Mal gesehen hatte. Wie eine ausgebleichte, zerrissene und wieder zusammengesetzte Fotografie kam es ihm vor, wie die schlechte Kopie einer Südstaatenvilla, von Stümpern und Kindern zusammengenagelt. Fast alles an dem Gebäude war schief, unfertig oder kaputt. Der aus der Mitte des Dachfirsts ragende Kamin war mit schwarzer, von Stürmen zerfetzter Plastikfolie umwickelt. Die Regenrinnen aus weißlackiertem Blech waren verbogen, an einigen Stellen hingen Teile von ihnen herunter oder fehlten ganz. Die rote Teerpappe, die ein Ziegeldach simulieren sollte, wies hässliche Flecken auf, wo sie durch graue Flicken ersetzt worden war. Je mehr Tobey sich dem Gebäude näherte, desto deutlicher offenbarten sich ihm die Folgen der schlampigen Bauweise und des Zerfalls. Von den

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