Auf den Inseln des letzten Lichts
leer war. Es klopfte erneut. Tobey kletterte aus dem Bett, zog Hose und T-Shirt an und öffnete die Tür. In dieser Sekunde fiel ihm ein, dass er das Messer aus dem Badezimmer hätte holen sollen, aber dann stand nur Montgomery in seiner grauen Uniform vor ihm. Er fühlte, wie sein Herz hämmerte, und zwang sich zu einem Lächeln. Montgomery beschrieb mit den Händen die Form eines Rechtecks und blätterte unsichtbare Seiten um.
»Der Ordner?« Tobey trat zur Seite und ließ Montgomery ins Zimmer. Er holte den Ordner von der Kommode und gab ihn dem Bonobo.
Montgomery legte den Finger auf sein Bild auf der ersten Seite, ging zur viertletzten und tippte auf das Wort Zimmer und dann zeigen .
»Du willst mir etwas zeigen?«, fragte Tobey.
Montgomery schlug die hinterste Seite auf und deutete auf Megans Foto, dann auf den Begriff Stift und Papier .
Tobey war zu verschlafen, um sich darauf einen Reim zu machen. Er suchte nach dem Begriff warten , wies auf den Sessel und ging ins Badezimmer, um sich das Gesicht zu waschen. Danach zog er sich fertig an und folgte Montgomery, der den Ordner trug, zu dessen Zimmer. Dort kippte Montgomery den Polstersessel um, löste den Stoff, mit dem der aus quer gespannten Bändern bestehende Boden abgedeckt war, und zog ein in Plastikfolie gewickeltes und mit Schnur zusammengehaltenes Papierbündel hervor. Damit ging er hinter das Bett, ließ sich auf dem Boden nieder und wartete, bis Tobey mit dem Ordner auf den Knien neben ihm saß. Die Folie war abgegriffen und grau, die Schnur ausgefranst und stellenweise zum Zerreißen dünn. Wie ein Restaurator, der mit kostbaren Dokumenten hantiert, nahm Montgomery Blatt um Blatt in die Hand und legte es vorsichtig auf den geschlossenen Ordner.
Auf den ersten drei Blättern waren in Tabellen Blutgruppen aufgelistet, Zahlen, medizinisch klingende Ausdrücke, Abkürzungen und handschriftliche Vermerke; lauter Dinge, aus denen Tobey nicht schlau wurde. Dann folgten Listen mit Zahlen- und Buchstabencodes und Einträgen, die für Tobey wie Befunde oder Krankenberichte aussahen. Er überflog vier solche Listen und verstand nichts, außer dass es offenbar wieder um Bluttests ging und um den Zustand von Versuchspersonen, die er hinter den Kodierungen vermutete. Am Ende einiger Zeilen stand das Wort EXITUS und ein Datum.
Montgomery zog zwei Fotos aus dem Stapel. Die Schwarzweißaufnahmen zeigten einen abgemagerten, vor einer weißen Wand stehenden Schimpansen und einen Bonobo, der, an Infusionen angeschlossen, auf einer Pritsche lag. Auf der Rückseite der Fotos klebten gedruckte Zettel, in die Daten wie Tag, Monat und Jahr der Geburt sowie Geschlecht, Gewicht und Blutgruppe eingetragen waren. Die letzte Spalte war für das Todesdatum vorgesehen. Oben auf den Zetteln stand jeweils ein Code, B-91–3728-F und C-89–2935-M. Die anstelle eines Namens verwendeten Nummern der beiden Tiere, vermutete Tobey.
Montgomery deutete auf den Ordner, und Tobey hob den Papierstapelhoch. Der Bonobo legte sich den Ordner auf den Schoß, blätterte durch die Seiten und legte den Finger auf ein Wort.
»Tot«, sagte Tobey.
Montgomery zeigte auf ein anderes Wort.
»Schmerzen.« Tobey flüsterte das Wort beinahe.
Montgomery holte ein Stück Papier hervor, eine gefaltete Seite aus einem Wissenschaftsmagazin mit einem Artikel über ein auf Genforschung spezialisiertes Labor in Edinburgh. Ein farbiges Bild zeigte zwei Männer, darunter standen ihre Namen, ein englisch und ein skandinavisch klingender. Beide waren jung, höchstens vierzig, und beide lächelten. Tobey überflog den Artikel, der die Arbeit des Forschungslabors vorstellte. Montgomery legte den Finger auf eines der Gesichter. Laut Bildunterschrift hieß der Mann Torben Raske und war Norweger.
»Er war hier?« Tobey tippte auf den Kopf des dünnen blonden Mannes, zeigte dann auf den Boden und hoffte, der Bonobo würde verstehen, dass er damit die Insel meinte.
Montgomery suchte ein weiteres Foto heraus. Vier Männer und zwei Frauen waren darauf zu sehen, die vor einem Gebäude standen, das Tobey nicht bekannt vorkam, und die je einen Schimpansen und Bonobo an der Hand hielten. Einer der Männer war der Norweger, ein anderer hatte Tobeys Ansicht nach große Ähnlichkeit mit Tanvir, wenn er ihn sich zehn Jahre jünger vorstellte. Im Hintergrund waren Bäume, wie sie auf der Insel wuchsen, zu sehen und weiße Wolken in einem blauen Himmel. Die eine der beiden Frauen war großgewachsen und dunkelhaarig, die
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