Auf den Inseln des letzten Lichts
hellblauen Wollsocken, auf einem Laken lag, dessen Farbe vor lauter Krümeln und Asche, unbenutzten Teebeuteln, zerknüllten Notizzetteln und Papiertaschentüchern, Büchern, Bonbons, Keksen, Streichholzschachteln, Stiften, Spielkarten, Zeitungsfetzen und zahllosen anderen Dingen nur schwer als Weiß zu erkennen war. Sie sah Tobey mit einem Blick an, in dem leichter Unmut und Mattigkeit, aber keinerlei Furcht lagen.
»Guten Tag«, sagte Tobey. Das Licht, die Gerüche, die Augen der Frau; alles erinnerte ihn an einen Wintertag in seiner Kindheit, eine endlose Stunde am Krankenhausbett einer Nachbarin, die auf Megan und ihn aufgepasst hatte, als sie klein waren, und der eine Krankheit die Lungen zerstörte. Sein Vater hatte ihn mitgeschleppt, um nicht alleine gehen zu müssen. Verlegen und verwirrt war er dagestanden und hatte Briona Fannings Ausdünstungen gerochen, ihrem leisen unregelmäßigen Atemzugehört und gewünscht, sie würde entweder augenblicklich gesund werden oder sterben, damit er diesen schrecklichen Ort verlassen und Megan suchen konnte, die sich auf der Farm versteckt hatte, um nicht mitgehen zu müssen. Während er auf seine Schuhe starrte, hatte er sich ausgemalt, wie er die aus Ästen und Schnur gebastelten Kreuze des Tierfriedhofs aus der Erde reißen und wie seine Schwester toben und sich auf ihn stürzen würde, wie sie beide ringend über den regenfeuchten Boden rollen und irgendwann daliegen und in den Himmel starren würden, keuchend vor kaum erschöpfter Wut, die sich gegen sie selber richtete und etwas, das sie nicht benennen konnten.
Die Frau mühte sich hoch und stopfte zwei Kissen in ihr Kreuz. »Wo ist Diego?«, fragte sie in einem Ton, der die letzten Zweifel zerstreute, sie könnte um ihre Sicherheit besorgt sein.
»Ich weiß nicht«, sagte Tobey.
»Wer sind Sie? Habe ich Sie schon gesehen?« Die Frau hatte erstaunlich langes und dichtes Haar, das sich als graublondes Gebilde auf ihrem Kopf türmte. Eine einsame Klammer baumelte an einer Strähne über ihrem Ohr, Zeichen eines kläglichen Versuchs, die zerzauste Fülle zu bändigen. Sie setzte die Brille auf, die an einer Kette aus Glitzersteinchen um ihren Hals hing, und betrachtete Tobey mit zusammengekniffenen Augen.
»Mein Name ist O Flynn«, sagte Tobey, um nicht unhöflich zu sein. Er dachte daran, die Tür zur Veranda zu öffnen und Luft hereinzulassen, blieb dann aber stehen.
»Bringen Sie die Zeitung? Ich warte schon seit Ewigkeiten darauf.«
»Nein, Madam.«
»O Flynn, sagen Sie? Sind Sie Ire?«
»Ja.« Tobey befreite seinen Arm aus Montgomerys Griff und trat einen Schritt zur Seite. Weil die Frau ihn unverhohlen musterte, wich er ihrem Blick aus. Der Affe auf dem Ölbild trug außer dem Zylinder auch ein rotes Halsband oder eine Krawatte.
»Gute Leute, die Iren. Sehr zuverlässig.« Die Frau packte ein Bonbon aus und steckte es sich in den Mund. »Haben Sie Bobbie gesehen?«
»Wen?«
»Bobbie«, sagte die Frau. »Meinen Mann.« Sie ließ das Bonbonpapier auf das Laken fallen, wo es sich im restlichen Unrat verlor. »Sind Sie neu?«
»Ja«, sagte Tobey. Gewissermaßen stimmte das sogar.
»Sind Sie von hier?«
»Nein, Madam, aus Irland.«
Die Frau sah sekundenlang mit gerecktem Hals und angestrengter Miene an Tobey vorbei ins Leere, als konzentrierte sie sich auf Geräusche, die nur sie hörte. Dann ließ sie sich in die Kissen zurücksinken, die ihren Rücken stützten, und fischte aus all dem Müll eine offene Packung Zigaretten.
Montgomery stieß Tobey leicht in die Seite.
»Wo ist Diego?«, wollte die Frau wissen.
»Keine Ahnung.« Tobey fragte sich, wer dieser Diego war und warum er ihn noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, falls er wirklich existierte. Während er sich umsah, bemerkte er einen kaum angerührten Teller mit Reis und Huhn auf dem Tisch neben sich und die weit offen stehende Tür zum Badezimmer. Über einer Schale voller Bananen kreiste eine Wolke von Fruchtfliegen, und in einem geflochtenen Papierkorb lag eine mit Käse belegte Brotscheibe.
»Rauchen Sie?«
»Nein.«
»Nie geraucht?« Die Frau tastete die Matratze nach etwas ab und sah unter die Decke, die sie mit den Füßen anhob.
»Doch. Ist lange her.«
»Sind Sie einer von denen?« Sie fand ein einzelnes Streichholz und suchte jetzt offenbar nach einer Schachtel.
»Einer von welchen?« Tobey rätselte darüber, was für einen Dialekt die alte Dame sprach. Amerikanisch auf jeden Fall, Texanisch schien ihm am
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