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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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sich weg.
    Tanvir sah in sein halbvolles Glas, als fragte er sich plötzlich, ob etwas mit dem Getränk nicht in Ordnung sein könnte. Dann trank er es aus, ging zu seinem Sessel zurück und füllte es bis zum Rand.
    »Tut mir leid«, sagte Tobey.
    »Ja, ja.« Tanvir legte die Beine auf den Hocker. »Mir tut es leid, dass ich keinen Whisky habe.«
    »Ist vielleicht besser so.«
    Für die nächsten paar Minuten schwiegen beide. Ein Falter verirrte sich in den Raum und setzte sich in den Lichtkegel, den die Lampe an die Wand warf. Tobey legte sich wieder der Länge nach auf das Sofa. Erwar froh, den Schritt nicht getan zu haben, und gleichzeitig fühlte er sich elend. Ein Glas, dachte er, und der Tag hätte sich darin aufgelöst, hätte das offene, verwüstete Grab vergessen lassen, Megans Arm, den Tritt gegen Montgomery. Ein einziges Glas, er musste nur die Hand danach ausstrecken.
    »Wollen Sie meine Geschichte noch hören?«
    »Was? Oh, ja, natürlich.«
    »Lang oder kurz?«
    »Lang.«
    Tanvir räusperte sich. »Also. Ich wurde vor vielen, vielen Jahren in einer kleinen Stadt in der Provinz Chittagong in Pakistan geboren. Geschwister hatte ich keine, was mir recht war. Ich verbrachte viel Zeit in meinem Zimmer. Ich las viel, das Alleinsein machte mir nichts aus. Als ich fünf war, zogen meine Eltern in die Hauptstadt. Mein Vater hatte dort eine besser bezahlte Stelle als Lehrer erhalten, er unterrichtete Englisch und Geschichte an einer höheren Schule. Meine Mutter arbeitete im damals noch jungen Landwirtschaftsministerium, war eine der ersten weiblichen Beamten. Sie hasste Büros und alles Theoretische, ging lieber in die Dörfer und erklärte den Bauern, wie sie ihre Erträge steigern konnten. Wir waren nicht reich, aber auch nicht arm. Ich ging zur Schule. Ich ging gerne zur Schule, obwohl mir alles zu langsam vonstattenging, der Unterricht schien mir für denkfaule Bummler angelegt zu sein, er kam mir träge vor, uninspiriert und festgefahren. Auf dem Schulweg holte ich mir jeden Tag eine Banane oder eine Orange von einem Marktstand. Ich liebte eine der Frauen dort, sie war etwas füllig und wunderschön, nachts träumte ich von ihr.« Tanvir kicherte leise und nahm einen Schluck Gin. Seine Stimme klang jetzt dunkler, er sprach langsamer. »Ich war ein guter Schüler, machte meinen Abschluss. Dann studierte ich Medizin, die Naturwissenschaften waren neben der Literatur immer meine Leidenschaft gewesen, Biologie, Chemie, Physik, was ist ein Blitz, wie funktioniert das menschliche Gehirn. Ich wollte forschen, etwas Großes entdecken, aber vor allem wollte ich weg aus Pakistan, weg aus meinem Leben, das mir trotz der Welt des Wissens, die sich mir an der Universität erschloss, eng und beschränkt erschien. Meine Mutter starb, als ich sechsundzwanzig war und kurz vor dem Doktortitel stand. Sie wurde bei einem ihrer Kursevon einer Schlange gebissen, in einem Kuhdorf war das, wo es keinen Arzt gab und kein Serum. Ein Jahr später brach diese Katastrophe über das Land herein, Sie haben bestimmt davon gehört. – Ach nein, dafür sind Sie zu jung. Ein Zyklon, verheerende Überschwemmungen, Zehntausende Tote. Unser Haus stand auf einem Hügel, unten war nichts mehr, keine Häuser, keine Weiden, keine Straßen. Das Land versank buchstäblich in Zerstörung und Chaos, wurde endgültig zum Tollhaus. Die politischen Konflikte eskalierten, wir Bengalen wollten einen eigenen Staat, ich nicht, aber wir, es kam zum Krieg, im März einundsiebzig war das, da existierten Sie noch nicht einmal als Gedanke im Kopf Ihrer Mutter. Mein Vater schickte mich nach Indien, wo eine seiner Schwestern lebte, und ich ging, obwohl ich ahnte, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Zwei Wochen später wurde er umgebracht, erschlagen, einer von zahllosen Bengalen in dieser schrecklichen Zeit. Vor allem auf die Gebildeten, die geistige Elite hatten es Khans Schergen abgesehen, auch auf einen kleinen Lehrer, einen leidenschaftlichen Badmintonspieler, verträumten Rosenzüchter, untröstlichen Witwer.« Er nippte am Glas, ächzte. »Sagen Sie mir, wenn ich zu ausführlich bin. Oder zu langweilig.«
    »Nein, nein, erzählen Sie weiter.« Tobey rückte das Kissen unter seinem Kopf zurecht und hoffte, die Narbe an seinem Hinterkopf blute nicht mehr. Er hörte Tanvir gerne zu, lag gerne auf diesem Sofa, durch Worte abgelenkt von diesem Tag, der mittlerweile zur Nacht geworden war.
    »Ich war also auf einen Schlag nicht nur Vollwaise«, fuhr Tanvir fort,

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