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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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»sondern auch in einem fremden Land, und in meiner Heimat tobte ein Krieg. Vielleicht war unser Haus zerstört worden, ich wusste es nicht. Ich arbeitete als Assistenzarzt in einem Krankenhaus in Delhi, kein Zuckerschlecken, das können Sie mir glauben, eine Hochburg der Viren und Keime, da starben gesunde Leute an einem aufgeschürften Knie, sehr unerfreulich alles. Irgendwann hatte ich diesen Wahnsinn satt, den Lärm in der Eingangshalle, die überfüllten Zimmer, die engen Flure, den Kantinenfraß. Ich nahm mein ganzes Erspartes und eröffnete einen Laden. Raten Sie, was für einen!«
    »Schnaps?«
    Tanvir schnaubte empört. »Ach, hören Sie auf, Schnaps!«, rief er. »Bücher! Bücher habe ich verkauft in meinem winzigen, finsteren Laden,eingeklemmt zwischen einem Schuster und einem Loch, wo alles zu finden war, vom Nagel bis zum getrockneten Tigerpenis! Aber was heißt hier verkauft? Verkauft habe ich gar nichts, kein einziges Buch. Schund führte ich natürlich nicht, aber die Leute hatten wohl anderes im Kopf als Proust und Tolstoi. Nach einem Monat war ich bankrott, so strafte das Leben den schöngeistigen Naivling. Am Tag, als ich die letzten Bücher in Kisten verpackte, um sie mit Verlust an eine richtige Buchhandlung in einer besseren Gegend zu verkaufen, betrat ein Mann den Ort meines Scheiterns, weiß, groß, gutgekleidet, wahrlich ein Fremdkörper in dieser lichtlosen Kammer und in diesem armseligen Quartier. Wie er mir später erzählte, hatte er seine Haushälterin, die ihre Eltern besuchte, eine Straße weiter abgesetzt. Er hat auf sie gewartet und ist herumspaziert, stellen Sie sich das vor, er ist herumgeschlendert in dieser Umgebung, an den Füßen teure, saubere Schuhe! – Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.« Tanvir nahm die Beine vom Hocker, ging ins Bad und kam mit einem feuchten Handtuch um den Hals zurück. Er stellte die Drehgeschwindigkeit des Ventilators eine Stufe höher und setzte sich wieder hin. »Nun, über der Ladentür hing noch immer mein wunderschönes Schild, das in blauäugiger Missachtung sämtlicher Umstände ›Reader’s Refuge‹, Zufluchtsort des Lesers verkündete, was den tapferen Mann ermutigte, den Schritt über die Schwelle zu wagen. Er wollte wissen, ob ich den Laden gerade eröffne oder dichtmache, und wir kamen ins Gespräch. Kurz und gut, als er hörte, dass ich Arzt bin, bot er mir eine Stelle an, und zwei Tage später wohnte ich in einem Gebäude, das mein neuer Arbeitgeber das Poolhaus nannte und das etwa zehnmal größer als mein ehemaliger Laden war. Und heller und sauberer, wenn ich das hinzufügen darf. Wenige Schritte neben meiner Unterkunft befand sich ein Schwimmbecken, das komplett mit Sand gefüllt war. Frank und Muriel Bennett, deren Hausarzt ich jetzt war, hatten eine siebenjährige Tochter, die unter Epilepsie litt.«
    »Deshalb der Sand im Swimmingpool«, murmelte Tobey.
    »Sie sind noch wach, gut. Genau, deshalb der Sand. Bridget, das Mädchen, war ein lebhaftes, intelligentes und fröhliches Kind, völlig normal, sah man von der Krankheit ab. Aber zur Schule ging Bridget nicht, das Risiko war zu hoch, also wurde das Kind zu Hause unterrichtet, unteranderem auch von mir. Wie erwähnt, habe ich als Junge sehr viel gelesen, ich kannte alle amerikanischen und russischen Romane, die mein Vater in jener Zeit irgendwie zu beschaffen in der Lage war und die bei einem Jungen meines Alters keine ernsthaften moralischen Schäden anrichten konnten. Ich las mit Bridget ›Puh, der Bär‹ und ›Der Wind in den Weiden‹, ›Das Dschungelbuch‹, ›Die Schatzinsel‹, ›Anna Karenina‹. Die Bestände aus meinem Laden waren eine unerschöpfliche Quelle.«
    »Sie haben mit einem siebenjährigen Kind ›Anna Karenina‹ gelesen?«
    »Warum nicht? Ich las ›Krieg und Frieden‹ mit sechs! Außerdem war Bridget ein ungewöhnlich aufgewecktes Kind.« Tanvir trank einen Schluck. »Wie dem auch sei, ich verbrachte vier glückliche Monate bei den Bennetts, und hätte es diese tragischen Ereignisse nicht gegeben, wären es wohl noch ein paar Monate mehr geworden.« Er sah Tobey an. »Können Sie eine Portion Tragik ertragen?«
    »Ich habe heute in einem Anfall geistiger Umnachtung die Leiche meiner Schwester ausgegraben«, sagte Tobey. »Ich denke, viel tragischer kann es nicht werden.«
    »Warten Sie’s ab. – Nun, es geschah alles an einem ganz normalen Tag. Ich hatte gerade den Unterricht mit Bridget beendet, als Muriel ins Wohnzimmer kam und mir

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