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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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alleine.«
    Tanvir stand unschlüssig da. »Wie Sie meinen«, sagte er dann, drehte sich um und trat auf den Kiesweg. »Wir werden mit dem Abendessen auf Sie warten.« Bevor er hinter der Biegung verschwand, spannte er den Schirm auf. Sekunden später fielen die ersten Tropfen.
     
    Tobey duschte so lange, bis kein heißes Wasser mehr kam, und schrubbte die Hände mit einer Bürste, obwohl die Blasen aufgesprungen waren. Hose und T-Shirt hatte er aus dem Fenster geworfen, wo sie in einer tiefen Pfütze landeten und der Regen auf sie herabprasselte. Er weinte wieder, und als kaltes Wasser über seinen Schädel floss, nahm er den Ring vom Waschbeckenrand und reinigte ihn mit der Bürste. Tanvir klopfte an die Tür und rief, Rosalinda bestehe darauf, dass er etwas esse, und Tobey versprach, zu kommen, obwohl er nicht hungrig war.
    Rosalinda füllte seinen Teller und befahl ihm, zu essen. Offenbar hatte Tanvir ihr nichts von dem Vorfall auf dem Friedhof erzählt, denn einen Grabschänder hätte sie wohl kaum in ihre Küche gelassen, geschweige denn bedient. Um sie nicht zu verärgern, aß Tobey die Hälfte des Reises mit Bohnen, den gebratenen Hühnerschenkel ließ er liegen. Während er lustlos kaute, warf er immer wieder verstohlene Blicke auf Montgomery, der in seiner frischen blauen Kleidung auf seinem Platz saß und kaum je den Kopf hob. Tobey erinnerte sich vage daran, den Bonobogeschlagen zu haben, und suchte an seinem Kopf nach einer Verletzung, jedoch ohne etwas zu erkennen. Wenn er sich beschämt abwandte, sah er Chester, der sich zwar so weit erholt hatte, dass er wieder essen mochte, aber noch immer müde und fahrig wirkte und Tobey gelegentlich mit Blicken bedachte, in denen Verständnislosigkeit und Anklage lagen. Tobey fühlte sich grauenhaft, und als Rosalinda ihm einen Teller mit gebackenen Bananen hinstellte, murmelte er eine Entschuldigung und rannte ins Freie.
     
    Die Regenfront hatte sich verzogen. In weiter Ferne stand sie als schwarze Wand über dem Meer, mit dem sie durch kilometerhohe Schleier verbunden war, senkrechte, vom Mond illuminierte Wasserstreifen, wehende Bahnen aus Milliarden winziger Tropfen, funkelnder Fische. Tobey saß auf dem Fels am Strand und sah zum Horizont, wo sich der Himmel geklärt, die Luft von der Regenlast befreit hatte. Noch immer trieben Wolken über seinen Kopf hinweg, blasse, zerfaserte Nachzügler, so dünn, dass Mondlicht sie durchdrang. Wenn er keinen Punkt fixierte, keinen Lichtfleck auf dem Meer, keinen Wellenkamm, kein Stück Treibholz, sah er Megans verkohlten Arm vor sich in der Dunkelheit, die Hand, den Finger, in dessen halb aufgelöstes Fleisch der Ring verwachsen war. Als er den Arm vom Tuch befreit hatte, musste er sich übergeben. Den Rest des toten Körpers hatte er nicht gesehen, nicht einmal berührt. Mit einem Ast hatte er den Ring vom Finger gezogen, mit der Schaufel die Leiche wieder in das Tuch eingerollt.
    Er nahm den Ring aus der Hosentasche. Die Farbe des Steins war wieder als Blau zu erkennen, nur auf dem Metall lag noch die wolkige Patina des Feuers. Er würde eine Kette kaufen, dachte er, und den Ring um den Hals tragen, verwarf die Idee aber wieder, als er sich daran erinnerte, dass seinem Vater jahrelang der Ehering an einem schnurdünnen Lederriemen vom Hals gehangen hatte, bis er eines Tages abfiel und nie gefunden wurde, obwohl Megan und er einen ganzen Tag danach suchen mussten. Er steckte den Ring in die Tasche und kletterte vom Fels. Nach dem Regen war der Sand fest und überzogen von Dellen, kleinen Kratern. Blätter bedeckten den Boden dort, wo die Böschung in den Wald überging. Aus alten und neuen Tümpeln stieg das Quaken der Frösche, vereinzeltwar das Zirpen einer Grille zu hören. Tobey ging über den Platz, fischte seine Sachen aus der Pfütze, presste das Wasser aus ihnen heraus und warf sie in seinem Zimmer in die Dusche. Dann nahm er ein Blatt Papier aus einem der Koffer, setzte sich an den Tisch und schrieb einen Nachruf auf seine Schwester.
     
    Eine Stunde später war er fertig, faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Gesäßtasche. Dann wusch er die Socken, die Hose und das Hemd im Waschbecken und hängte alles über die Duschvorhangstange. Er sah in den Spiegel, die Haut auf dem Nasenrücken schälte sich, seine Lippen waren rissig und er hatte eine Rasur nötig. Eine Weile betrachtete er sich, suchte nach Ähnlichkeiten mit Megan. Er nahm sich vor, Montgomery zu fragen, ob er mehr als ein Foto von ihr

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