Auf den Marmor-Klippen: 62 Tausend
Winter kennt man auf ihnen weder Frost noch Schnee; die Feigen und Orangen reifen in freier Luft, die Rosen tragen das ganze Jahr. Zur Zeit der Man- del- und der Aprikosenblüte läßt sich das Volk an der Marina gern hinüberrudern; sie schwimmen dann wie helle Blumenblätter auf der blauen Flut. Im Herbst dagegen schifft man sich ein, um dort den Peters-Fisch zu speisen, der in gewissen Voll- mond-Nächten aus großer Tiefe zur Oberfläche steigt und überreich die Netze füllt. Die Fischer pflegen ihm schweigend nachzustellen, denn sie mei- nen, daß selbst ein leises Wort ihn schreckt, und daß ein Fluch den Fang verdirbt. Auf diesen Fahrten zum Peters-Fisch ging es stets fröhlich zu; und man versorgte sich mit Wein und Brot, da auf den Inseln die Rebe nicht gedeiht. Es fehlen dort die kühlen Nächte im Herbst, in denen der Tau sich auf die Trauben schlägt, und wo ihr Feuer durch eine Ahnung des Unterganges an Geist gewinnt.
An solchen Feiertagen mußte man auf die Marina blicken, um zu ahnen, was Leben heißt. Am frühen Morgen drang die Fülle der Geräusche hier her- auf — ganz fein und deutlich, wie man Dinge im umgekehrten Fernrohr sieht. Wir hörten die Glocken in den Städten und die Böller, die den bekränzten Schiffen in den Häfen Salut erwiesen, dann wieder die Gesänge frommer Scharen, die zu den Wunder- Bildern wallten, und den Ton der Flöten vor einem Hochzeitszug. Wir hörten das Lärmen der Dohlen um die Wetterfahnen, den Hahnenschrei, den Kuckucksruf, den Klang der Hörner, wie sie die Jägerburschen blasen, wenn es zur Reiher-Beize aus dem Burgtor geht. So wunderlich klang alles dies her- auf, so närrisch, als sei die Welt aus buntem Schel- men-Tuch gestückt — doch auch berauschend wie Wein am frühen Tag.
Tief unten säumte die Marina ein Kranz von klei- nen Städten mit Mauern und Mauertürmen aus Römer-Zeiten, hoch von altersgrauen Domen und Merowinger-Schlössern überragt. Dazwischen lagen die fetten Weiler, um deren Firsten Tauben-Schwärme kreisten, und die von Moos begrünten Mühlen, zu denen man im Herbst die Esel mit den Malter- Säcken traben sah. Dann wieder Burgen, auf hohen Felsen-Spitzen eingenistet, und Klöster, um deren dunkle Mauer-Ringe das Licht in Karpfenteichen wie in Spiegeln funkelte.
Wenn wir vom hohen Sitze auf die Stätten schau- ten, wie sie der Mensch zum Schutz, zur Lust, zur Nahrung und Verehrung sich errichtet, dann schmolzen die Zeiten vor unserm Auge innig inein- ander ein. Und wie aus offenen Schreinen traten die Toten unsichtbar hervor. Sie sind uns immer nah, wo unser Blick voll Liebe auf altbebautem Lande ruht, und wie in Stein und Ackerfurchen ihr Erbe lebt, so waltet ihr treuer Ahnen-Geist in Feld und Flur.
In unserm Rücken, gegen Norden, grenzte die Campagna an; sie wurde von der Marina durch die Marmor-Klippen wie durch einen Wall getrennt. Im Frühling dehnte dieser Wiesengürtel sich als ein hoher Blumen-Teppich aus, in dem die Rinder- herden langsam weideten, wie schwimmend im bunten Schaum. Am Mittag ruhten sie im sumpfig kühlen Schatten der Erlen und der Zitter-Pappeln, die auf der weiten Fläche belaubte Inseln bildeten, aus denen oft der Qualm der Hirtenfeuer stieg. Auch sah man weit verstreut die großen Höfe mit Stall und Scheuer und den hohen Stangen der Brunnen, die die Tränken wässerten.
Im Sommer war es hier sehr heiß und dunstig, und im Herbst, zur Zeit der Schlangen-Paarung, war dieser Strich wie eine Wüsten-Steppe, einsam und verbrannt. An seinem andern Rande ging er in ein Sumpfland über, in dessen Dickicht kein Zeichen der Besiedlung mehr zu spüren war. Nur Hütten aus grobem Schilf, wie sie zur Entenjagd errichtet wer- den, ragten hin und wieder am Ufer der dunklen Moorgewässer auf, und in die Erlen waren verdeckte Sitze wie Krähen-Nester eingebaut. Hier herrschte bereits der Oberförster, und bald begann der Boden anzusteigen, in dessen Grund der Hochwald wur- zelte. Von seinen Säumen sprangen noch wie lange Sicheln Gehölze, die man im Volk die Hörner nannte, in die Weidestriche vor.
So war das Reich, das um die Marmor-Klippen dem Blick sich rundete. Wir sahen von ihrer Höhe das Leben, das auf altem Grunde wohl gezogen und gebunden wie die Rebe sich entfaltete und Früchte trug. Und wir sahen auch seine Grenzen: die Gebirge, in denen hohe Freiheit, doch ohne Fülle bei Barbaren-Völkern wohnte, und gegen Mit- ternacht die Sümpfe und dunklen Gründe, aus denen blutige Tyrannis
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