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Auf den Marmor-Klippen: 62 Tausend

Auf den Marmor-Klippen: 62 Tausend

Titel: Auf den Marmor-Klippen: 62 Tausend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Jünger
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droht.
     Gar oft, wenn wir zusammen auf der Zinne stan- den, bedachten wir, wieviel dazu gehört, bevor das Korn geerntet und das Brot gebacken wird, und wohl auch dazu, daß der Geist in Sicherheit die Flügel regen kann.

                            9.
    In guten Zeiten hatte man der Händel, die von je auf der Campagna spielten, kaum geachtet, und das mit Recht, da sich dergleichen an allen Or- ten wiederfinden, an denen Hirten und Weidesteppen sind. In jedem Frühjahr gab es Streitigkeiten um das noch ungebrannte Vieh, und dann die Kämpfe an den Wasserplätzen, sobald die Trockenzeit be- gann. Auch brachen die großen Stiere, die Ringe in den Nüstern trugen und den Frauen an der Marina bange Träume schufen, in fremde Herden ein und jagten sie den Marmor-Klippen zu, an deren Fuße man Hörner und Rippen bleichen sah.
     Vor allem aber war das Volk der Hirten wild und ungezähmt. Ihr Stand vererbte sich seit Anbeginn vom Vater auf den Sohn, und wenn sie in zerlump- tem Kreis um ihre Feuer saßen, mit Waffen in der Faust, wie die Natur sie wachsen läßt, dann sah man wohl, wie sie sich von dem Volke unterschieden, das an den Hängen die Rebe baut. Sie lebten wie in Zeiten, die weder Haus, noch Pflug, noch Webstuhl kannten, und in denen das flüchtige Obdach auf- geschlagen wurde, wie der Zug der Herden es ge- bot. Dem entsprachen auch ihre Sitten und ein rohes Gefühl für Recht und Billigkeit, das ganz auf die Vergeltung zugeschnitten war. So fachte jeder Totschlag ein langes Rachefeuer an, und es gab Sippen- und Familienfehden, von deren Ursprung längst die Kunde erloschen war, und die doch Jahr für Jahr den Blutzoll forderten. Campagna-Fälle pflegten daher die Juristen an der Marina das grobe, ungereimte Zeug zu nennen, das ihnen unterlief; auch luden sie die Hirten nicht aufs Forum, sondern entsandten Kommissarien in ihr Gebiet. In anderen Bezirken übten die Pächter der Magnaten und Le- hens-Herren, die auf den großen Weidehöfen saßen, die Gerichtsbarkeit. Daneben gab es noch freie Hir- ten, die reich begütert waren, wie die Bataks und Belovars.
     Im Umgang mit dem rauhen Volke lernte man auch das Gute kennen, das ihm zu eigen war. Dazu gehörte vor allem die Gastfreiheit, die jeden, der sich an seine Feuer setzte, einbezog. So kam es, daß man im Kreis der Hirten auch städtische Gesichter sehen konnte, denn allen, die aus der Marina wei- chen mußten, bot die Campagna eine erste Zuflucht dar. Hier traf man vom Arrest bedrohte Schuldner und Scholaren, denen bei einer Zecherei ein allzu guter Stoß gelungen war, in der Gesellschaft von entsprungenen Mönchen und fahrendem Gelichter an. Auch junge Leute, die nach Freiheit strebten, und Liebespaare, die nach Art der Schäfer leben wollten, suchten gerne die Campagna auf.
     So wob zu allen Zeiten ein Netz von Heimlich- keiten, das die Grenzen der festen Ordnung über- spann. Die Nähe der Campagna, in der das Recht geringer durchgebildet war, war manchem günstig, dessen Sache sich böse wendete. Die meisten kehrten wieder, nachdem die Zeit und gute Freunde für sie gewirkt, und andere verschwanden in den Wäldern auf Nimmerwiedersehn. Nach Alta Plana aber ge- wann, was sonst zum Lauf der Dinge zählte, unheil- vollen Sinn. So dringt in den erschöpften Körper das Verderben oft durch Wunden, die der Gesunde kaum bemerkt.
     Auch wurden die ersten Zeichen nicht erkannt. Als die Gerüchte von Tumulten aus der Campagna drangen, schien es, daß die alten Blutrache-Zwiste sich verschärften, doch bald erfuhr man, daß neue und ungewohnte Züge sie verdüsterten. So ging der Kern von roher Ehre, der die Gewalt gemildert hatte, verloren; und die reine Untat blieb bestehen. Auch hatte man den Eindruck, daß in die Sippen- bünde aus den Wäldern Späher und Agenten ein- gedrungen waren, um sich ihrer zu fremden Dien- sten zu bemächtigen. Auf diese Weise verloren die alten Formen ihren Sinn. So etwa war seit jeher, wenn an einem Kreuzweg ein Leichnam mit vom Dolch gespaltener Zunge aufgefunden wurde, kein Zweifel, daß hier ein Verräter den auf seine Spur gesetzten Rächern erlegen war. Auch nach dem Kriege konnte man auf Tote stoßen, die solche Marke trugen, doch nunmehr wußte jeder, daß es sich um Opfer der reinen Meintat handelte.
     Desgleichen hatten die Bünde stets Tribut erho- ben, doch hatten ihn die Grundherren gern gezahlt, die ihn zugleich als eine Art von Prämie auf den guten Stand des Weideviehs betrachteten. Nun aber

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