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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ein, daß sie irgendwo gelesen hatte, sein Bekanntheitsgrad sei größer als der des Präsidenten. Er lächelte sie an. »In Ihrem Filmtheater«, las sie und hörte, wie ihre Stimme dabei stockte.
    Als Will später an diesen Augenblick zurückdachte, wurde ihm klar, daß die Eule schuld gewesen war. Wenn er nicht gebremst hätte, weil er die Eule rufen hörte, hätte er bestimmt nicht angehalten; und wenn er nicht angehalten hätte, hätte er nicht all die falschen Entscheidungen getroffen.
    Durch einen Glücksfall war er auf den Sunset Boulevard gelangt, aber wenn er auch wußte, daß der Sunset Boulevard irgendwann auf den Freeway stieß, so wußte er doch nicht, ob er in die richtige Richtung fuhr. Er war an zwei Tankstellen vorbeigekommen, aber beide waren geschlossen, und inzwischen war sein rechtes Auge fast zugeschwollen, und er wollte nur noch in sein Bett kriechen und vergessen, wieso er überhaupt nach Kalifornien gekommen war.
    Er war gerade an einem McDonald’s vorbeigefahren, als er den Ruf hörte, klar und durchdringend wie den Schrei eines Kindes. Will hatte oft Eulen gehört, aber nicht, seitdem er South Dakota verlassen hatte. Wie viele im Reservat glaubten auch seine Großeltern, daß Vögel künftige Ereignisse ankündigten. Da Vögel fliegen konnten, waren sie näher an der Geisterwelt als die Menschen; man schlug also vielleicht eine Warnung oder ein Versprechen einer höheren Macht in den Wind, wenn man die Botschaft eines Vogels ignorierte. Will hatte, getreu seiner ablehnenden Haltung der Sioux-Kultur gegenüber, den Falken, Adlern und Raben nie Bedeutung beigemessen, aber er brachte es einfach nicht über sich, Eulen nicht zu beachten. Eulen waren, wie seine Großmutter sagte, Todesboten.
    »Vielleicht ist es der Wagen«, sagte er laut, und fast im gleichen Moment hörte er es wieder: einen schrillen Schrei, der ihm an den Eingeweiden zerrte.
    Er trat auf die Bremse. Knapp hinter ihm scherte ein Lieferwagen aus, dessen Fahrer ihn durch das offene Fenster beschimpfte. Will ließ den Wagen vor eine katholische Kirche rollen und blieb im Halteverbot stehen.
    Er stieg aus, trat auf den Bürgersteig und blickte zum Himmel auf. »Okay«, sagte er sarkastisch. »Und jetzt?«
    Die Frau, die aus dem Tor neben der Kirche trat, hatte eine schwache weiße Aura, wie ein Geist. Sie erblickte Will und ging ein bißchen schneller. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Verdutzt starrte Will sie an. Sie reichte ihm gerade bis zur Schulter, und an ihrem Skalp klebte verkrustetes Blut. Sie kam auf ihn zu, bis sie nur noch Zentimeter von ihm entfernt war, und schaute auf den Bluterguß über seinem Auge. Sie streckte die Hand aus, diese Frau, die Will noch nie gesehen hatte, und strich mit den Fingern über sein Gesicht. Noch nie hatte er so etwas gespürt: Die Berührung war ruhiger als ein Atemzug. »Du auch?« flüsterte sie, dann verdrehte sie die Augen und sank zu Boden.
    Will fing sie auf und setzte sie auf den Beifahrersitz seines Pickups. Als sie sich zu rühren begann, rutschte er so weit wie möglich an die Fahrertür, denn er war sicher, daß sie schreien würde, wenn sie in dem Auto eines Fremden zu sich kam. Aber sie schlug nur die Augen auf und lächelte so freundlich, daß Will ihr Lächeln unwillkürlich erwiderte.
    »Ist alles in Ordnung?« fragte er.
    Sie schluckte, fuhr sich mit der Hand übers Haar und strich es aus ihrem Gesicht. »Ich glaube schon«, sagte sie. »Haben Sie lang gewartet?«
    Sie klang, als würde sie ihn schon ewig kennen. Will mußte grinsen. »Nein«, antwortete er, »ich bin bloß zufällig vorbeigekommen.« Er sah sie kurz an. »Hören Sie«, sagte er, »wenn Sie auf jemanden warten, kann ich bei Ihnen bleiben, bis er da ist.«
    Die Frau erstarrte. »Sie kennen mich nicht?« Will schüttelte den Kopf. »O Gott.« Sie rieb sich die Augen. »Gott.« Unter Tränen sah sie zu ihm auf. »Damit wären wir zu zweit.«
    Will fragte sich, in was er da reingeraten war - saß hier in seinem Auto mit einer Frau, die entweder verrückt war oder so high, daß sie nicht klar denken konnte. Er lächelte zögernd und wartete darauf, daß sie in die Wirklichkeit zurückfand. »Sie meinen, Sie kennen mich auch nicht.«
    »Ich meine, ich kenne mich nicht«, flüsterte die Frau.
    Will blickte aufmerksam in ihre klaren Augen und dann auf die verklebte Platzwunde über der Schläfe. Amnesie, dachte er. »Sie wissen Ihren Namen nicht mehr?« Automatisch begann er mit der

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