Auf den zweiten Blick
beneidete er sie. Sie hatte ihre Vergangenheit so leicht abstreifen können - während Will darum kämpfen mußte, die eigene Geschichte aus seinem Gedächtnis zu streichen.
Will legte einen Finger auf Janes Kragen, wo Blut eingetrocknet war. Er würde kaltes Wasser holen und den Fleck einweichen. Er strich ihr das Haar aus der Stirn und betrachtete ihr Gesicht. Sie hatte ganz gewöhnliches braunes Haar, eine kleine Nase, ein energisches Kinn. Sommersprossen. Sie war nicht die atombusige Blondine seiner Jugendträume, aber sie war auf schlichte Weise hübsch. Bestimmt hatte jemand schon Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie zu finden.
Er nahm die Hand von ihrem Hals, weil er einen Waschlappen holen wollte, aber plötzlich schoß ihre Hand hoch, und ihre Finger schlossen sich mit Lichtgeschwindigkeit um sein Handgelenk. Lieber Himmel, dachte er, Reflexe wie ein Puma. Sie schlug die Augen auf und sah sich gehetzt um wie ein Tier in der Falle. »Psst«, flüsterte Will beruhigend. Als er vorsichtig die Hand aus ihrem Griff zu befreien versuchte, ließ Jane ihn los. Sie legte die Stirn in Falten, als wisse sie nicht genau, warum sie ihn festgehalten hatte.
»Wer sind Sie?« fragte sie.
Will ging an die Tür und machte das Licht aus. Er schaute weg, weil sie sein Gesicht nicht sehen sollte. »Das wollen Sie nicht wirklich wissen«, sagte er.
Wills früheste Erinnerung hatte damit zu tun, wie er seinen Vater aus dem Gefängnis abgeholt hatte.
Er war drei, und er wußte noch genau, wie seine Mutter ausgesehen hatte, als sie vor dem Sheriff gestanden war. Groß und stolz und sehr, sehr blaß, selbst in dem schummrigen Licht. »Da liegt ein Mißverständnis vor«, sagte sie. »Mr. Flying Horse ist bei mir angestellt.«
Will verstand nicht, warum seine Mutter behauptete, daß sein Vater für sie arbeitete, obwohl sie doch wußte, daß er für Mr. Lundt auf der Ranch arbeitete. Er verstand auch nicht, was ein »tätlicher Angriff« sein sollte, und er glaubte, daß man mit einer »Körperverletzung« eher ins Krankenhaus als ins Gefängnis kam. Der Sheriff, ein Mann mir rosigem Blumenkohlgesicht, sah Will scharf an und spuckte dann genau vor seine Füße. »Kein Mißverständnis, Ma’am«, widersprach der Sheriff. »Sie kennen diese gottverdammten Indianer.«
Das Gesicht seiner Mutter erstarrte zu Stein, und sie zückte ihre Börse, um die Strafe zu bezahlen, die man seinem Vater auferlegt hatte. »Lassen Sie ihn raus«, zischte sie, und der Sheriff drehte sich um und verschwand in einem Gang. Will sah ihn kleiner werden; jedesmal, wenn er an einem Fenster vorbeikam, blinkte die Pistole an seiner Hüfte.
Wills Mutter ging neben ihm in die Hocke. »Glaub ihm kein Wort«, erklärte sie. »Dein Vater wollte nur helfen.«
Jahre später erfuhr er, daß Zachary Flying Horse in einer Bar gewesen war, als es zu einem Zwischenfall kam. Eine Frau war von zwei Kerlen belästigt worden, und als Zachary sich einmischte, waren die beiden auf ihn losgegangen. Die Frau war weggelaufen, und als die Polizei kam, stand Zacks Wort gegen das von zwei Weißen.
Zachary kam hinter dem Sheriff aus dem Gefängnisgang. Er rührte seine Frau nicht an. »Missus«, sagte er ernst. »Will.« Er nahm den Jungen auf die Schultern und trug ihn hinaus in die heiße Sonne Dakotas.
Sie gingen einen halben Block weit, ehe Wills Vater ihn von seinen Schultern hob und seine Mutter an sich drückte. »O Anne«, seufzte er in ihr Haar. »Es tut mir so leid, daß du das mitmachen mußt.«
Will zupfte seinen Vater am Flanellhemd. »Was hast du denn getan, Pa?«
Zack nahm Will an der Hand und ging weiter. »Ich wurde geboren«, sagte er.
Die Nachricht, die Will ihr hinterlassen hatte, war unmöglich zu übersehen: Sie lag mitten auf dem Toilettendeckel neben einem frischen Handtuch, Zahnpasta, einem Zwanzigdollarschein und einem Schlüssel. Jane, ich bin in der Arbeit. Ich werde mich nach Ihrem Mann umhören, und ich werde versuchen, Sie später anzurufen. Der Kühlschrank ist leer, wenn Sie also Hunger haben, müssen Sie zum Supermarkt (3 Blocks nach Osten). Hoffentlich geht es Ihnen besser. Will.
Sie putzte sich die Zähne mit dem Finger und las die Nachricht noch einmal. Er hatte nicht geschrieben, was sie tun sollte, wenn sie aufwachte und ihren Namen und ihre Adresse wieder wußte. Nicht daß das einen Unterschied gemacht hätte, da sie sich immer noch an nichts erinnerte. Wenigstens hatte sie Glück im Unglück gehabt. Die Chance, auf dem
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