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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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schwere Wand.
    Wie immer bei extremen Wettersituationen (»der heißeste Hamburger Augusttag seit Beginn der Wettermessung«), ob es sich um Hitze, Kälte, Regenfluten (»Jahrhundertflut«) oder Schneekatastrophen handelte, unkten und orakelten die Zeitungen von Klimakatastrophen, die die Menschen als Zivilisationsopfer bald dem Wärmetod des Treibhauseffekts, bald dem Kältetod durch Vernichtung der Ozonschicht aussetzen und dahinraffen würden – die Welt ein toter Planet: bald, vielleicht schon übermorgen oder erst in fünfzig Millionen Jahren.
    »Bild«, das noch mit schlimmsten Katastrophenmeldungen für eine absurd heitere Stimmung zu sorgen versuchte, hatte tagelang irgendwelche Klima-Experten darüber berichten lassen, dass der Erde wahrscheinlich der Äquator verrutscht sei – wie der Gürtel einer Hose über einem zu dicken Bauch; je nachdem, nach oben zur Brust oder nach unten unter die Hängewampe. Diesmal nach oben, daher die Hamburg-unübliche Hitze, aber niemand machte sich auch nur einen Gedanken darüber, dass es keine Schreckensmeldungen über eine neue Eiszeit auf der Südhalbkugel gab, die dem verrutschten Gürtel entsprochen hätte; aber die »Bild«-Berichte waren nicht logisch, sondern lustig gemeint.
    Niemand machte sich auch ernsthaft Gedanken darüber, dass in dieser brüllend lastenden Hitze überall im Land auf den Beton-Spargelfeldern die Windräder stillstanden, ihre Flügel schlaff und starr zugleich in der Luft hingen. Waren sie die richtige ökologische Antwort? Auch zu dieser Überlegung, die die Klima-Debatte seit Jahren, ja Jahrzehnten mit dem Begriff »Nachhaltigkeit« befrachtete (was machen unsere Kinder und Enkel, wenn wir ihnen eine versaute, überschuldete Welt hinterlassen, zumal dann, wenn drei aus der Großeltern-Generation auf den Schultern eines noch dazu arbeitslosen Enkels hocken), war es zu heiß.
    Es war Freitag, kurz vor zwei, die Stände am Ise-Markt wurden langsam abgebaut und Branco, der Brückenwirt, mein langjähriger Tennisfreund, berühmt für seine Schnitzel (die besten nördlich des Äquators, nein, nicht des Äquators, die besten nördlich Wiens, jedenfalls die besten in Hamburg), tigerte mit Einkaufstaschen über den Markt, um noch kurz vor Torschluss ein paar Schnäppchen (Blumen, Obst, Gemüse) für sein Restaurant zu machen.
    An den langen Tischen saßen eng nebeneinander mehrere Pulks, Kinder krabbelten über die Bänke und ihre Mütter oder rasten mit Fahrrädern in halsbrecherischer Eile um den Block. Die Frauen trugen Cargo-Hosen mit vielen Taschen, nur wenige hatten bauchfreie Tank-Tops. Bei denen sah man, wenn sie sich zu ihren Kindern beugten oder zu den Hunden, die plötzlich unter dem Tisch hervorbellten, wenn sich ein anderen Hund blicken oder riechen ließ, tätowierte Drachen, die aus ihren Hosen über dem Steißbein in den Rücken unter ihre Tops krochen.
    Doch die meisten zeigten weder Tätowierungen noch Piercings in Lippen und Nasen, sie gehörten den gesettelten Dreißig- bis Fünfzigjährigen an, waren Werbefrauen, Anwältinnen, Assistentinnen von Werbeleuten und Anwälten, sie kamen vom Einkaufen auf dem Markt und übten sich, Abschied nehmend von den Kollegen, auf das familiäre Wochenende ein. Die meisten sahen gut aus, durchtrainiert, Vertreter der Wellness-Fitness und Spa-Generation, trugen Designer-Klamotten, tranken zu entcoffeiniertem Capuccino oder Latte macchiato Mineralwasser, natürlich ohne Kohlensäure, aßen nur Salat – schon wegen der Hitze, aber auch überhaupt. Einige rauchten, wobei sie davon sprachen, dass sie im Urlaub nicht geraucht hätten. Die Urlaubsinseln, wo manche noch hinwollten, andere schon waren, hießen Ibiza, Sylt oder Mallorca (hier meist Mallorca). Die Autos, die sie am Rand geparkt hatten, waren schwere Geländewagen oder kleine Stadtflitzer, die überall parken konnten. Sie sagten sich »Hallo!« und »Tschüss« und dass man sich im Urlaub sehen würde und ob man auch das wunderbare Lokal (»das war neu, dieses Jahr«) auf der Insel besucht habe (»da müsst ihr hin!«). Und alle wirkten entspannt und nicht mal sehr träge. Und wenn sie kamen und gingen, sagten sie: »Uff! Ist das heiß!« Und rollten komisch mit den Augen.
    Nur wenn sie von ihren Kindern sprachen, kam man, als unfreiwilliger Zuhörer, manchmal ins Schleudern: »Die Kinder von meinem Ralf haben sich mit denen von Olaf gut vertragen.« Oder: »Der Peter hat die Kinder von Svenja dieses Jahr mitgenommen«, oder man erfuhr,

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