Auf der Flucht
seit langem in nationalen und sozialen Erhebungen auseinander strebte.
Was am Verhandlungstisch in Frankreich nach Ende des Ersten Weltkrieges nicht zu lösen war, was sich aus der Auflösung des russischen und türkischen Reichs an ethnischen Säuberungen mit ihren Massenmorden, Zwangsdeportationen, Konzentrationslagern vollzogen hat, hat seinen Anfang 1915 mit dem Genozid an den Armeniern genommen, der Vertreibung der Griechen aus Anatolien – zu Ende ist es, wenn wir auf Zypern blicken, im Bewusstsein der betroffenen Völker bis heute nicht. Auch die im Februar 1944 erfolgten Zwangsdeportationen der Tschetschenien-Inguschen und der Krim-Tataren im Mai 1944 haben bis heute, wie man in Tschetschenien sehen kann, kein wirkliches Ende gefunden. Und so, wie der Erste Weltkrieg in Sarajewo seinen Anfang genommen hat, so ist er um die Jahrtausendwende in den ethnischen Säuberungsverbrechen noch einmal auf das Schrecklichste entbrannt.
In diesen Zusammenhängen hätte ich meine Fluchten und ihre Konditionierung durch das Leben meiner Eltern und ihrer Eltern sehen können, hätte ich damals schon über den heutigen Abstand verfügt, die historische Aufarbeitung gekannt.
Die fünfte Flucht, eine selbst gewählte, scheinbar individuelle, die aus der DDR, war dennoch eine Massenflucht und kam einer Vertreibung gleich, nämlich der Vertreibung durch die Unerträglichkeiten einer herrschenden Ideologie. Damals, wie gesagt, waren es tausend Menschen täglich, die dem real existierenden Sozialismus (oder das, was sich dafür ausgab) den Rücken kehrten. Tausend pro Tag.
Wenn ich, Jahre später, die Begeisterung meiner linken Freunde – und fast alle meine Freunde waren »links« – und meiner Brüder für Fidel Castros Kuba nicht zu teilen vermochte – mein kleiner Bruder fuhr 1969 voll froher Erwartung hin und kehrte kleinlaut und stumm bald darauf zurück –, dann lag das daran, dass ich in Miami Kubaner getroffen habe, die dort lieber als Taxifahrer oder Kellnerinnen arbeiteten, als in Castros Kuba zu leben. Und die erinnerten mich an mich selbst, 1952 nach Verlassen der DDR. »Warum sind sie geflohen?« »Porque Castro està loco!« (Weil Castro verrückt ist), war die etwas einfache, aber zutreffende Antwort eines Kellners in Miami.
Heute halten viele dieser Exilkubaner ihre Landsleute auf der Castro-Insel am Leben, indem sie ihnen Geld schicken, die von den Kommunisten gehassten und begehrten »Dólares«. Es ist wie mit den Westdevisen in den letzten Jahren der DDR, die einen zweiten Geldkreislauf in Gang hielten, den Schwarzmarkt der Privilegierten – etwas, das in allen kommunistischen Ländern funktionierte, die meist nicht durch ihren ideologischen Optimismus, sondern durch (zaristische, balkanische, lateinamerikanische) Korruption, Vetternwirtschaft, ihr Mafia-Wesen am Leben blieben: Genau wie auf Kuba, als Havanna noch das Bordell der Dollarmillionäre war. Und das gilt bis jetzt.
Es gab die Flüchtlingsströme von Maos China nach Taiwan, von Vietnam auf die Schiffe in die Nachbarländer. Es gab sie und es gibt sie. Sie scheinen ideologie-resistent und ideologieunabhängig zu sein. Es ist eine globale Fluchtkrankheit, von den Dörfern in die Städte, nach Mexiko City, nach Shanghai, nach Moskau. Oder von Afrika nach Europa, illegal, auf Schiffen, zusammengepfercht in Containern. Ich weiß auch, dass es die DDR-Flüchtlinge waren, die, auf zum Teil gefährlichen Wegen, nach Ungarn, nach Prag gingen und dann der Honecker-DDR das Ende bereiteten. Und was ich auch weiß, ist, dass mit der Wiedervereinigung die Landflucht nicht zu Ende ist, aus Mecklenburg, aus Brandenburg, aus den inzwischen verwaisenden Städtchen und Dörfern an der Oder.
Meine fünfte Flucht 1952 war meine letzte. Sie vollzog sich mit bürokratischer Akkuratesse, ordnungsgemäß, nach deutschen Gesetzen. Unter dem Schutz und der Billigung der westlichen Alliierten. Zuerst, nachdem ich mich in West-Berlin mit zwei meiner Schulkameraden (»Hier sind wir. Wir kommen aus der DDR. Wir wollen in den Westen.«) bei der nächstbesten Polizei gemeldet hatte. Dann wurden wir den »Amerikanern« übergeben, von denen den »Franzosen«, die ein Durchgangslager in ihrem Sektor, in Frohnau, im Grünen, »Jotwede« wie der Berliner sagt, janz weit draußen, hatten.
An diese Zeit in einer Halle mit übereinander gestapelten Betten mit grauen Decken – so sehen alle Lager aus – erinnere ich mich aus zwei Gründen. Einmal, weil wir in den vier
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