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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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fröhliche Feier danach. Man hätte die hübschen jungen Schauspielerinnen und Schauspieler aus Ost und West nicht auseinander halten können – mal abgesehen von den unverkennbaren Sprachmelodien, die das Sächsische wie das Schwäbische selbst noch in der Hoch- und Bühnensprache offenbaren. Und sah man beim fröhlichen Gespräch näher hin, gab es noch einen Unterschied: Bei den westdeutschen Schauspielern hatte das Zeitalter der Jackett-Kronen und der in der Schulzeit durch Zahnspangen korrigierten weißen regelmäßigen Zahnreihen begonnen und schon zu dem blendax-weißen Keepsmiling geführt. Die Dresdner Schauspielerinnen und Schauspieler fielen allesamt durch viel schlechtere Zähne auf.
     
    Als ich mich im Wintersemester 1952 / 1953 an der Universität Tübingen für ein Studium der Germanistik und Anglistik immatrikulierte – unter dem Vorbehalt, nach Abschluss des ersten Semesters mit einer Ergänzungsprüfung mein DDR-Abitur als Zulassung zum Universitätsstudium gültig zu machen –, war meine Flucht zu Ende. Zuerst war ich als Vierjähriger geflohen, 1938 mit meiner Mutter aus der Tschechoslowakei, von der wir damals nicht wussten, wie bald Hitler ihrer staatlichen Selbständigkeit ein Ende setzen würde. Dann, die zweite Flucht, vor der anrückenden Roten Armee, Ende 1944, als Elfjähriger, der natürlich noch nicht wusste, dass er dorthin floh, wo die Sowjetunion näher war als in dem Ort, den er verlassen hatte. Und auch nicht, dass der zweite Teil dieser Flucht in das Ende des Großdeutschen Reichs fallen würde – mit der totalen Kapitulation, dem blanken Elend und nackten Überlebenskampf auf der Landstraße in einem Flüchtlings treck.
    Dass die dritte Flucht uns nach Niederschlesien führte, wohin wir hinter den siegreichen russischen Truppen und den nationalen tschechischen Befreiungsverbänden sozusagen zurückgeflohen waren, zurück in ein scheinbares Niemandsland, machte mich 1946 zum Teilchen eines riesigen, Europa umwälzenden Ereignisses: der Vertreibung von 15 Millionen Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten in Mittel- und Osteuropa – aus Schlesien, Pommern, Ostpreußen, aus Polen, der Tschechoslowakei, aus Ungarn wie aus den Balkanstaaten. Diese Vertreibung wurde neben der Flucht ohne Rückkehr das zweite große traumatische Erlebnis der Deutschen. Lange verdrängt und später offiziell wie halboffiziell tabuisiert, drängt es sich gerade jetzt, nach der Wiedervereinigung und der Osterweiterung der EU, ans Licht. Auch diese Verpanzerung bricht, und das, was hinter ihr zum Vorschein kommt, will und muss verarbeitet, aufgearbeitet werden.
    Man hat das 20. Jahrhundert nicht zu Unrecht als das Jahrhundert der Fluchten und Vertreibungen bezeichnet, die in schrecklichen Massakern, geplanten und ausgeführten Völkermorden gipfelten und von ethnischen Säuberungen bis zu denen im Kosovo begleitet waren. Eine der Völkerwanderung vergleichbare Verschiebung ganzer Völker fand da statt, die bald hilflose Opfer, bald willige Handlanger der Vollstrecker waren. Sie vertrieben und wurden vertrieben, sie flüchteten und nötigten andere zur Flucht, sie mordeten und wurden gemordet, beides geplant und spontan, mit bestialischer Wut und mit bürokratischem Kalkül. Millionen waren ebenso oft Opfer von Rache, Gier und Wut wie von ideologischer Planung durch Klassenkampf oder Rassenwahn, Opfer des grausigen Zufalls solcher Massenfluchten und Massenvertreibungen, Tausende, die in Schnee und Kälte verreckten, in Lagern verhungerten, ausgemergelt der Apathie zum Opfer fielen oder von den Händen einer plündernden, vergewaltigenden Soldateska zu Tode gewürgt, erschossen, erstochen wurden.
    Man kann, glaube ich, sagen – und die Erkenntnisse der Historiker belegen dies –, dass die Katastrophen dieses Jahrhunderts der Fluchten und Vertreibungen, der geplanten ethnischen und rassischen Vernichtungen und der daraus resultierenden Kriege und Bürgerkriege von einer Art Urknall ausgelöst wurden – der Auflösung der Vielvölkerstaaten und imperialen Reiche, vor allem der Türkei, Österreich-Ungarns und Deutschlands und dessen Gebieten im Osten sowie des zaristischen Russland. Zum Ende des Ersten Weltkriegs brachen die längst morschen Vielvölkerstaaten auseinander oder wurden durch die Friedensverträge von Versailles, von St. Germain und anderen Folgeverträgen getrennt, wobei vergeblich versucht wurde, das auf dem Verhandlungstisch zu teilen, was vorher gewaltsam zusammengefügt worden war und

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