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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Gerippe im Vergleich zu Haseks Ur-Schweijk) nach Stalingrad zieht.
    Eine Woche lang waren wir Nacht für Nacht bei den Endproben im Theater, die Premiere haben wir nicht mehr erlebt, da Strehler sie souverän verschob. Der ganz im Stile eines Maestro auftretende Regisseur (dem Brecht bescheinigte, nachdem er die Inszenierung der »Dreigroschenoper« gesehen hatte, er habe das Werk heiter, leicht und mit mediterranem Charme »neu geschaffen«) konnte sich das leisten, er hatte mit Paolo Grassi einen kongenialen kaufmännischen Partner, der ihm alle Schwierigkeiten, die von dieser Welt (jenseits der Theaterwelt des schönen Scheins) waren, beiseite räumte.
    Nacht für Nacht: Strehler, der die große Bühne des Theaters technisch einrichten und ausleuchten ließ, lange bevor die Proben begannen, fing mit den Schauspielern erst gegen Mitternacht an zu arbeiten – keine Gewerkschaftsregeln hinderten ihn und seine begeisterte Truppe, die ihn vergötterte, daran, bis gegen vier oder fünf zu proben. Strehler war ein schöner Mann, der seine intelligente Männlichkeit mit der Attitüde und Kraft eines Dirigenten einsetzte: Noch heute sehe ich die Bewegungen, mit denen seine Hände die Akteure dirigierten, höre den Belcanto-Wohlklang seiner Stimme, stelle ihn mir als grau gelockten Macho vor, dem alle auf der Bühne zu Füßen liegen und aufs Wort gehorchen. Er genoss es, dass wir, gewissermaßen Jünger aus Brechts plumperem Norden, ihn bei der Arbeit spürbar anhimmelten – es war Siegfried Melchinger, der Theater-Intellektuelle von scharfem Verstand mit gleichzeitig fast schwärmerischer Rührseligkeit, der Strehler in Deutschland als Herold diente; einerseits, weil er von dessen »Italientá« schwärmte, andererseits, weil er durch Strehlers Theaterarbeit auch in Deutschland Brecht vom ideologischen Joch befreien konnte – der erneute Boykott Brechts durch den Mauerbau war nahe.
    In der Tat war dieses Stück, das den tschechischen Kauz im passiven Widerstand bis vor Stalingrad führte – wo der Hundefänger Schwejk nichts zu suchen hatte – bei Strehler ein schöner Appell im Kalten Krieg gegen den Krieg. Gegen Ende fuhr ein deutscher Panzer frontal auf den Zuschauerraum zu, weiße Vorhänge und ein Konfetti-Regen im Scheinwerferlicht symbolisierten den russischen Kriegswinter; die Niederlage in Stalingrad war ein poetisches Bühnenereignis und im schönsten Italienisch, wie in einer Verdi-Oper, sangen die auf dem Panzer sitzenden Statisten in deutscher Infanterie-Uniform das schöne Gedicht von den Steinen am Grunde der Moldau:
     
    Am Grunde der Moldau wandern die Steine
    Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
    Das Große bleibt Groß nicht
    Und klein nicht das Kleine.
    Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
     
    Die Melodie orientierte sich auch hier an Hanns Eislers Adaption des Moldau-Motivs von Smetana. Der greise Eisler saß übrigens im Zuschauerraum neben Strehlers Bühnenbildner und Assistenten und wehrte sich – so schien es uns in unserer Strehler-Begeisterung – griesgrämig gegen die »Veroperung« seiner Musik.
    Jahre später inszenierte Strehler in Hamburg am Schauspielhaus Brechts »Der gute Mensch von Sezuan«. Sehr poetisch hüpften die Schauspieler über die Pfützen und den Morast der bösen Welt von Sezuan, »Italientá« in Hamburg – Strehler brachte die wunderschöne Andrea Jonasson für die Titelrolle (Shen Te und Shui Te) mit, die er 1973 in Salzburg kennen gelernt hatte.
    Ich sah Strehler, immer noch eine strahlende, tenorale Erscheinung mit bläulich schimmerndem Silberhaar, bei einem Interview im Atlantik-Hotel und erinnere mich noch heute, wie ihm die Jonasson in bewundernder Unterwürfigkeit die Aktentasche hinterhertrug.
    Strehlers »Guter Mensch« war eine Enttäuschung. Inzwischen regierten »Schmuddelkinder« wie der Strehler-Schüler Klaus Michael Grüber oder Peter Zadek die Bühnen, die nicht mehr hell ausgeleuchtet und poetisch aufgeräumt waren – es war die Stunde von Schauspielern wie Ulrich Wildgruber oder Eva Mattes. Sie sudelten im Matsch, zu dem sie Brechts Theaterarbeit zerstampft hatten, und sprangen nicht mehr in zierlichen, tänzerischen Sprüngen über die Pfützen auf der Bühne. Strehler entdeckte Milva als seinen neuen Star.
     
    Ich war damals »Spiegel«-Redakteur und schrieb einen Essay mit dem Titel: »Brecht ist tot«. Schon vorher hatte ich mich an Max Frisch orientiert, über den ich noch in Stuttgart Ende der sechziger Jahre eine

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