Auf der Flucht
Wochen – der ersten Station des »Notaufnahmeverfahrens – von irgendwelchen amerikanischen Zivilbeamten stundenlang einzeln sehr freundlich und sehr intensiv verhört wurden, ohne dass ich mich darin erinnern könnte, dass das, was sie von mir hören wollten, irgendwelchen Sinn und Verstand – etwa im Sinne geheimdienstlicher Aufklärung – machte.
Der zweite Grund: Ich fing an, auch aus Langeweile, mit einem sechzehnjährigen Mädchen zu flirten, das da mit seinen Eltern im Lager war, aus Ostpreußen stammte und ein wunderschönes breites, freundliches Gesicht, umrahmt von dicken weißblonden Zöpfen, hatte. Wir saßen am Nachmittag am Rande des Lagers auf einer Bank, hielten Händchen, rückten Wange an Wange dicht aneinander, küssten uns. Dabei hat mich wohl mein Klassenkamerad Karlheinz gesehen denn er sagte mir am Abend – es war gegen Ende unseres Aufenthaltes –, dass er mich mit dem Mädchen habe knutschend sitzen sehen. Und dann: Man nenne sie im Lager »Matratze«, weil sie mit jedem …
Ich habe ihm diese Bemerkung eigentlich nie vergeben. Unsere Freundschaft hatte von da an einen Riss. Ich denke, dass ich mir aus diesem Grund von ihr keine Adresse geben ließ oder ihr, falls sie keine hatte, nicht die meines Metzinger Onkels gab. Ich habe das lange bedauert, weil das eine unerfüllte Geschichte war und sie ein sehr zärtliches Mädchen.
In Hamburg fuhr unser Bus dann an den Grindel-Hochhäusern vorbei, die mir damals, 1952, ungeheuer imponierten. Heute ist dort mein Einwohnermeldeamt, das Standesamt, in dem ich 1982 heiratete, und, immer wieder, das Wahllokal.
Wir wurden in das Notaufnahmelager Fallingbostel gebracht, ich erinnere mich an die groben Ärzte, die uns Flüchtlinge untersuchten und fragten, ob wir »Käse an der Nille« hätten. Aber dies war sozusagen die gröbste, die einzige Entwürdigung. Und wahrscheinlich stanken wir wirklich.
Weil ich einen Brief von meinem Onkel Kurt vorweisen konnte, in dem der sich bereit erklärte, mich in Metzingen aufzunehmen, wurde ich mit dem Zug nach Balingen in Württemberg-Hohenzollern verfrachtet, das dritte Notaufnahmelager, das besonders trostlos, weil weitgehend leer war. Eine bräunliche Baracke, ziemlich heruntergekommen. Auch hier musste ich stumpfsinnig ein paar Wochen warten, und dann erreichte ich meinen offiziellen Flüchtlingsstatus, den Flüchtlingsausweis, der mir mein Leben als Bürger der Bundesrepublik garantierte. Ich bekam den »Ausweis A« (Heimatvertriebener). Als DDR-Flüchtling wegen »Gefahr für Leib und Leben« hätte ich nur den Ausweis »C« bekommen, während mir der Ausweis A (verlorenes »Hab und Gut« und Lastenausgleich) ein Stipendium und ein Studiendarlehen sichern sollte.
Jetzt war ich angekommen.
Übrigens gab es damals die Flüchtlingszeitung »Ost-West Kurier«, die mich (der Verleger war ein Jugendfreund meines Vaters) um einen Artikel über das Lager Balingen bat. Ich schrieb, unter anderem, dass die Baracken in der Nazizeit politische Häftlinge beherbergt hätten und in der Zeit der französischen Besatzung Deutsche, die entnazifiziert werden sollten. Dann beschrieb ich den ziemlich tristen Zustand der Baracken, ihrer Waschräume, ihrer Toiletten.
Der Artikel erschien. Die Redaktion hatte den Satz gestrichen, dass hier politische Gefangene der Nazis interniert waren. Die Gefangenen der Franzosen wurden dagegen nicht gestrichen. Es war mein erster und letzter Artikel für den »Ost-West Kurier«. Dass Flüchtlingsverbände »revanchistisch« seien, schien mir von da an nicht nur ein Schlagwort kommunistischer Propaganda.
Im Westen nichts Neues?
Frontwechsel im Kalten Krieg
Kraut und Rüben werfeten s' untereinand'
als wie Kraut und Rüben!
Nestroy, »Der Zerrissene«
Hamburg 2003
A
n einem glühend heißen Augusttag im Jahr 2003 saß ich mittags an einem der vier langen Tische mit langen Bänken, die auf dem Pflaster vor dem Eckrestaurant »Brücke« standen. Die unerwartete, lang andauernde Hitze hatte alles verändert. Zwar fuhr die Hochbahn wie immer mit einem von Rattern unterbrochenen dunklen Grollen hoch oben über die von Eisenträgern gehaltenen Schienen, aber in den endlos heißen Tagen schien die Bezeichnung Hamburger Brooklyn (»Brücklyn«) für diesen Teil der Isestraße nicht mehr übertrieben. Ein leicht stechender Geruch nach Rost und Staub hing in der schweren Luft, die Züge schienen sich durch die Hitze zu kämpfen wie durch eine
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