Auf der Flucht
dass Jens (der gerade mit dem Fahrrad wieder vorbeibrauste, »nicht so wild, Jens!«, rief die Mutter) sich mit Tina, der neuen Frau seines Vaters, erstaunlich gut vertragen habe. Und seine neuen Geschwister seien ja noch zu klein …
Immerhin gab es in diesen Patchwork-Familien noch Kinder, und ebenso reichlich Hunde. Hunde, mit denen fremde Kinder unter dem Tisch spielen durften. Oder solche, bei denen es besser war, das zu lassen. »Du, Tim, das mag der gar nicht!« Ab und zu gaben Handys stumme Lichtsignale, mit manchen wurde gesimst oder kurz versichert: »Du, ich ruf dich später an.« Mit den meisten Handys hätten sich die Gäste wechselseitig fotografieren können.
Wieder donnerte ein Zug durch die Hitze vorbei, ich bemerkte auf einmal, dass die Fenster in den Häusern ringsherum trotz der hohen Temperaturen geschlossen waren, bis auf die Klappen. Das bedeutete: Klimaanlagen wie in New York haben die nicht. Aber so heiß wird es in dem Isestraßen-Brooklyn ja auch nur selten, es sei denn, der Äquator verrutscht auf Dauer.
Mir fiel ein, dass ich, rund fünfzehn, zwanzig Jahre früher, eine Ecke weiter, zur »Glocke« gegangen bin, einer stets rauchverhangenen Kneipe, in der vor ihrem Bier oder vor Riesenportionen von Salaten inzwischen die gestrandeten Veteranen der 68er sitzen; immer noch haben sie das Ideal des Irish Pub vor ihren glasigen Augen. Und an den Wänden hängen die Spielautomaten, die blinken und rotieren und von den Spielern nicht beachtet werden, während sie klingelnd und mit hektischen Lichtsignalen auf ihren psychedelischen Penny-Lane-Design-Teilen Freispiele oder Gewinne anzeigen.
Der kalte Rauch scheint hier seit Jahrzehnten zu stehen, die Bedienungen sind üppig und freundlich wie eh und je; vielleicht ein bisschen fülliger, die Haare kräftiger gefärbt. Hier stehen sie am Tresen, die versoffenen, frühpensionierten Lehrer, die pensionierten Kameraleute vom NDR, die Geschiedenen aus längst vergessenen Ehen, die sich mit einer zärtlichderben Zote an ihre Zeiten sexueller Freiheit erinnern, sonst aber lieber Fußball sehen, Champions League, Bundesliga, Länderspiele.
Ich kann mich erinnern, dass dieser Teil der Ise-Straße, die Stockwerke zu beiden Seiten in Höhe der Hochbahn, damals den WGs, den Wohngemeinschaften, gehörte, dem zum Bürgertum strebenden Teil der Hausbesetzer, all den linken Lehrern, Sozialarbeitern, Stadtangestellten, freien Journalisten, die hier ihre Familienenge zu überwinden suchten. Inzwischen hat der Lauf der Dinge, haben die Mietpreise, hat die mürbe Zerbrechlichkeit der Beziehungen die meisten dieser Wohnungen von den Experimenten des Zusammenlebens wieder freigespült; hier leben jetzt Arrivierte, die mit den Karriere-Angeboten der Gesellschaft zurechtgekommen sind. Sie sind die Gäste der »Brücke«, sie wissen, was gut ist und wo es den richtigen Wein gibt. Und wo es nicht »übertrieben« zugeht, was Preise und Schnick-Schnack angeht: »Wenn ich nur das Wort ›amuse geule‹ höre oder ›vorweg ein kleiner Gruß aus der Küche‹, dann krieg ich schon die Krise.« Noch Jüngere sind in den Kaffeestuben zu finden, wo es Kuchen vom Blech (»heute Apfelstrudel mit Vanillesauce«) gibt und die Gäste über Bücher, Konzerte, Filme diskutieren; hier treffen sich die Kinder und Enkel der Achtundsechziger.
Ich sitze also vor der »Brücke«, unter einem großen Schirm, und esse, der Temperatur gemäß, Tomaten mit Mozarella, Büffel-Mozarella, versteht sich, und Basilikum. Seit den Blütejahren der längst alt gewordenen Toskana-Fraktion ein Klassiker bei uns weltläufigen Deutschen. Auch dieses Essen hat seinen langen Marsch durch die Institutionen hinter sich, wie das Vitello Tonnato, wie der Ruccola-Salat mit Parmesan und, versteht sich, mit Balsamico.
Gut vierzig Jahre ist es her, da war ich erst Volontär und dann Redakteur bei der »Stuttgarter Zeitung«, die damals noch im Tagblatt-Turm arbeitete, die Kultur im zwölften Stock. Und gegenüber – die erste Aufbauphase war zu Beginn der 6 0 er Jahre zu Ende – wurde ein zu Karstadt gehörendes Kaufhaus, ein wunderbar leichter, runder, schier schwebender Mendelsohn-Bau, platt gemacht. Er wich der damals üblichen Eiermann-Kaufhaus-Einheitsarchitektur: Das Gebäude verschwand hinter aluminiumfarbenen Pailletten und Scheiben und wurde so allen Kaufhäusern von Flensburg bis München angeglichen. Noch heute habe ich den monatelangen Lärm in den Ohren, der erst vom Abriss kam und dann von
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