Auf der Flucht
den gewaltigen Rammen, die die riesigen Eisenpfeiler in den Boden stießen.
Vorbei an dieser Baustelle, Richtung Altstadt (die es, de facto, damals nicht mehr gab) lag in einem Eckhaus der Lieblings-Italiener meiner beiden Feuilleton-Chefs Siegfried Melchinger und Richard Biedrzynski. »Vesuvio« hieß das Lokal, hatte wenige Tische und die beiden gestandenen Herren, Melchinger war Mitte fünfzig damals, »Bie«, wie sich Biedrzynski gerne nannte und nennen ließ, Anfang sechzig, hatten einen Stammplatz. Jeden Mittag. Sie aßen auch jeden Mittag zusammen, am liebsten, wenn sie sich vertrugen. Und wenn sie sich nicht vertrugen, dann diente das Essen im »Vesuvio« der sich bei Salat und Vino bianco oder rosso anbahnenden Versöhnung. Wir jungen Redakteure wurden ab und zu von den beiden zum Essen mitgenommen; teils aus Wohltätigkeit, um uns an die italienische Küche heranzuführen, und das auf Spesen, das heißt auf Kosten unseres Chefs; teils weil wir als Puffer in den als lustig getarnten ernsten Kriegen der beiden dienten.
Siegfried Melchinger, graue, streng gescheitelte Haare über einem immer stärker sich hochrot verfärbenden Gesicht, trug meist graue Anzüge, Pfeffer und Salz, ein schwarzes Hemd ohne Krawatte und war damals Deutschlands Theaterpapst, wenn es den Begriff Theaterpapst schon gegeben hätte. Als profunder Kenner des antiken griechischen Theaters, als begeisterter Anhänger des Welttheaters hatte er die Gleichzeitigkeit und Gegenwärtigkeit aller großen Zeiten und Epochen (Sophokles, Commedia del’Arte, Calderón, Shakespeare, Ibsen, Hauptmann) auf dem Gegenwartstheater statuiert und dazu den Begriff des Malraux'schen »musée imaginaire« bemüht: Wie in einem Museum die großen Bilder aller Epochen vor dem Betrachter Gegenwart ausdrücken, so ist es Aufgabe des Theaters, die wichtigen Dramen aller Epochen gegenwärtig zu machen, »sm«, wie sein Kürzel hieß, das er in stolzer Bescheidenheit auch unter längere Artikel setzte, wurde so zum Begründer des Repertoires (»musée imaginaire«), des modernen Subventionstheaters: Alles was das Theater heute verwirklichen kann, ist von heute.
Ein überragendes Beispiel war für ihn Giorgio Strehlers Inszenierung von Goldonis »Diener zweier Herren«. Uns junge Redakteure, Oliver Storz, Rolf Michaelis und mich, rekrutierte er für sich, auch im Kampf gegen Richard Biedrzynski, indem er uns auf Brecht, auf Frisch und auf Dürrenmatt einschwor (er hatte dabei leichtes Spiel bei uns, rannte sozusagen offene Türen ein). Vor allem auf Brecht, den er gegen die westdeutschen Boykott-Bemühungen verteidigte: Brecht sei kein Kommunist, sondern allenfalls ein großer Dramatiker, der das Zeigen an die Stelle des Seins setze, wie die Antike, wie Calderón. Das war klug und zum guten Teil auch richtig. Den Brecht-Gegnern nahm er, mit Hilfe großer Brechtaufführungen in Mailand, am Berliner Ensemble, in Frankreich, den Wind aus den Segeln.
Einmal, 1961, organisierte er mit uns eine Autoreise nach Mailand; Helmut M. Braem, der große Faulkner-Übersetzer, Literatur-Mitarbeiter der »Stuttgarter Zeitung«, war unser »Chauffeur«. Melchinger, Michaelis und ich (alle drei damals ohne Auto und ohne Führerschein) fuhren mit ihm über den alten verschneiten St.-Gotthard-Pass, froren in ungeheizten und damals unheizbaren Hotels in Mailand, das einen plötzlichen Kälte-Einbruch erlebte (was man damals noch nicht auf eine Klimakatastrophe schob), und durften den Proben Strehlers (und seines Bühnenbildners Damiano Damiani) zusehen, der am Piccolo Teatro Brechts »Schweyk im Zweiten Weltkrieg« inszenierte. Er machte aus dem Un-Stück eine schmissige und wirksame Polit-Operette, ein hinreißendes Musical des epischen Theaters.
Mich, dessen Italienisch sich aus dem mühsam erworbenen Großen Latinum speiste, trieb es aus Kälte in die Bekanntschaft einer Amerikanerin, mit der ich allein essen ging: Sie hatte nicht einmal das Latinum. Und als ich später den Kollegen beichtete, ich hätte »Spaghetti à la Vongole« bestellt, obwohl ich welche mit Fleischsauce hätte haben wollen, und seit dem Abendessen mit der ein wenig älteren, leicht üppigen Amerikanerin wüsste ich, dass Zuppa la Cozze nicht nur wie »Kotze« heiße, sondern auch so schmecke (ich war damals für den Verzehr von Meeresfrüchten noch nicht reif), hatte ich den Spitznahmen »Baloun« weg. Es ist dies der Name des böhmischen Vielfraßes, für dessen Heißhunger Brechts Schweyk (ein ideologisches
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