Auf der Flucht
hatte Sonntagsdienst, berichtete Kinkel vom Verkauf von Picasso-Grafiken und suchte als Abbildung ein hoch versteigertes Picasso-Blatt aus. »Homme devoilant une femme« (Mann, eine Frau enthüllend) hieß das Blatt und in Picassos noch kubistischer Darstellung war der sexuelle Akt, der da in kühner Reduktion gezeichnet war, nur schwer zu erkennen. Auch hatten wir den französischen Titel der Grafik keineswegs übersetzt. Trotzdem brach am nächsten Tag ein Sturm der Entrüstung los, der sich in entsetzten Leserbriefen entlud: Eine solche Zeichnung in der Zeitung könne man doch nicht vor Kindern liegen lassen und diese so einer ungeahnten Gefahr aussetzen! Hans Kinkel hat dieser Bericht, wegen der Abbildung, seinen Job gekostet – die neu erworbene Pressefreiheit hatte ihre Grenzen in der Moral der fünfziger Jahre erreicht, die noch Mitte der Sechziger in den Redaktionsräumen einer äußerst liberalen schwäbischen Großstadtzeitung herrschte.
Die Unfreiheiten, die in der neuen Freiheit aufbrachen, mussten wir erst kennen lernen. Als ich bei der Stuttgarter Zeitung als Redakteur anfing, erschien gerade Vladimir Nabokovs Meisterwerk »Lolita«, die Geschichte der verhängnisvollen Leidenschaft eines Gelehrten zu einem »Nymphchen«, eine verbotene Liebe zu einer Kindfrau. Als wir darüber schrieben, hatten wir einen neuen Kodex verinnerlicht, ein Doublespeak, wie wir es politisch für Brecht erlernt hatten.
Eines der wichtigsten Bücher meiner ersten Redakteursjahre wurde für mich Ludwig Marcuses Buch »Obszön. Die Geschichte einer Entrüstung«, in der Marcuse anhand der Skandale, wie sie sich um Schnitzlers »Reigen« oder Flauberts »Madame Bovary« abgespielt hatten, zeigte, wie der Vorhang der Doppelmoral ab und zu zerreißt und die Widersprüche einer Zeit sich im Skandal, der so etwas wie eine Explosion ist, wie in greller Beleuchtung in schärfsten Umrissen zeigen. »Der Skandal fängt dann an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht«, heißt es bei Karl Kraus.
Die fünfziger Jahre waren eine seltsame Wiederholung des Fin de Siecle in Paris, Wien und Berlin. Billy Wilder, der einen wunderbar ungelenken lasziven Kinderakt von Balthus in seinem Schlafzimmer hängen hatte, ein Bild verhexter Unschuld, wie sie uns in Träumen und in großen Kunstwerken heimsucht – ihre spröde Nacktheit ist wie ein Panzer –, hat mir bei einem Besuch erzählt, wie Nabokov in seinem Haus fasziniert vor diesem Bild gestanden habe. Er erzählte mir dann in diesem Zusammenhang, wie er 1957 aus Europa, wo er auch so eine verhexte Kindfrau-Geschichte, »Liebe am Nachmittag« mit Audrey Hepburn, gedreht habe, nach Amerika zurückflog und »Lolita« im Handgepäck hatte. Nabokovs Roman, als Pornographie verschrien, durfte damals in den USA nicht verkauft werden, er war in dem Exil-Verlag der Olympia-Press in Paris erschienen, in der grünen Reihe, in der auch der »Ulysses« von James Joyce –, der nicht zuletzt wegen Mollys Traum-Phantasien ebenfalls als pornographisch galt – eine Art Underground-Verlag gefunden hatte. Wilder also kaufte sich die »Lolita« bei Olympia-Press, der Zöllner in New York beschlagnahmte das Buch sofort. Wilder meinte spöttisch, der Beamte sei hoffentlich in seinen pornographischen Erwartungen nicht allzu sehr enttäuscht worden, als er das grüne Taschenbuch dann gelesen habe.
Zensur findet immer statt, so lernte ich als junger Journalist. Und in Zeiten, in denen sie nicht stattfindet, findet die Diktatur der absoluten Nichtzensur statt – vorübergehend, bis die Zensur wieder stattfindet. Eigentlich galt immer noch das Karl-Kraus-Wort: »Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.« Natürlich gilt dies ebenso für die Zensur von Werken über Sexualität. Andererseits gilt auch hierfür cum grano salis, dass Not erfinderisch macht. Wilder pries das Hays-Office (die »freiwillige« Zensur der Film-Industrie), weil sie die Phantasie der Filmemacher anregte, sie zu Leistungen trieb, die Zensur zu umgehen.
1987 hatte ich als Redakteur beim »Spiegel« das Glück, vor der Deutschland-Premiere seines Vietnam-Films »Full Metal Jacket« in den Warner-Bros.-Studios Stanley Kubrick für Stunden interviewen zu dürfen. Sein Antikriegsfilm »Wege zum Ruhm«, einer der kompromisslosesten, war im Nachkriegs-Frankreich de Gaulles noch verboten gewesen. Im Laufe des Gesprächs erzählte Kubrick, ein freundlicher dunkelhaariger Mann mit vor Gescheitheit und Feuer blitzenden Augen, dass er
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