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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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öffnen musste, flötete etwas von »Vino rosso« und »Va bene« und stopfte sich die Serviette in den Hemdkragen – ein Vesuv mitten in Stuttgarts neuer Betonwüste. Noch eine Grappa? Naturalmente. »Bie« blühte auf.
    In der Redaktion war der rührend kindliche Riese eher ängstlich und nur selten aufbrausend. Er hatte Angst, dass seine Nazi-Artikel aus dem »Völkischen Beobachter« auffliegen könnten. Jetzt schwärmte er für die als »entartet« verschriene Moderne. Picasso, das war's!
    Aus Rache nannte »Bie« Josef Eberle, der Latein aktiv beherrschte und in der Samstagsbeilage der »Stuttgarter Zeitung« lateinische Gedichte veröffentlichte, nach dem dritten Viertel im Stuttgarter Restaurant »Bubenbad«, wo wir am Abend in Wohnnähe der beiden Chefs saßen, einen »hoch gebildeten Pachulke«. Eberle, der in den dreißiger Jahren als Literat reüssiert hatte (unter dem Pseudonym Sebastian Blau veröffentlichte er witzige Mundartgedichte), war mit einer jüdischen Frau verheiratet; während »Bie« in Berlin beim »Völkischen Beobachter« Karriere machte (er war kein Nazi, aber »was blieb ihm anderes übrig«), verzichtete Eberle auf seine Karriere, stand zu seiner Frau und rettete ihr das Leben. Die Amerikaner hatten ihn dann zum »Lizenzträger« der »Stuttgarter Zeitung« gemacht, die Lizenz war eine Goldgrube, denn Zeitungen, deren Abonnements anfangs zugeteilt wurden, waren schon allein als Papierlieferanten für Einwickel- wie Klopapier ihren Kunden wertvoll.
    Dass damit, en passant, eine »reeducation« der Deutschen glücken sollte, war das schönste Nebenergebnis. Allerdings ging die Umerziehung der Deutschen mit dem, was man »Wirtschaftswunder« nannte, Hand in Hand. Es war leicht, an eine Staatsform zu glauben, die den meisten Wohlstand versprach und das Versprechen jahrzehntelang hielt. Deutschland, Westdeutschland entwickelte sich zur Schönwetterdemokratie, an deren Ostgrenze allerdings die Kaltfront des Kalten Krieges für Turbulenzen sorgte. Die Lizenz-Zeitungen haben Deutschland in der Tat umerzogen; sie waren eine der wichtigsten Säulen für eine neue, eine bürgerlich demokratische Gesinnung, neben den Verfassungsgerichten etablierten sie in der jungen Demokratie der Bundesrepublik die »Vierte Macht«, was spätestens in der »Spiegel«-Krise (auch das Nachrichtenmagazin war eine britische Lizenzzeitung, die wir als Studenten wie eine Offenbarung verschlangen), deutlich wurde, noch nicht als »Sturmgeschütz der Demokratie«, wie Augstein seinen »Spiegel« später charakterisierte, aber als eine Art Katechismus der neuen Gesellschaft, der er kritisch das neue Staatsverständnis mitsamt einer skeptischen Staatsverdrossenheit vorbuchstabierte.
    Das Anzeigengeschäft blühte, Emigranten kehrten zurück und schrieben in den Zeitungen und selbst die entnazifizierten Redakteure, die mit gewendeter oder verschwiegener Biographie Unterschlupf in den Zeitungen gefunden hatten, beförderten, manchmal noch in alter Diktion, den Geist der neuen Zeit.
    Für uns Junge war damals Platz, unendlich viel Platz in den Zeitungen. Die Generation vor uns war beschädigt, viele waren im Krieg gefallen oder in der Gefangenschaft zerbrochen worden, schier unendlich schienen die Freiheiten, die uns beim Schreiben zustanden. Frauen waren noch in der Minderzahl, obwohl Jahr für Jahr mehr Kolleginnen den Journalistenberuf wählten. Erst in der »Zeit« hatte ich eine Chefredakteurin. Und ich glaube heute, dass sie das wegen ihrer gräflichen Herkunft und ihrer Nähe zum Widerstand des 20. Juli war. Es gab eine offene, eine neue Welt, von der wir wussten, dass sie eines nicht werden sollte – nie wieder faschistisch. Wir waren gewarnt; wir wussten: Wenn je wieder ein »böhmischer Gefreiter« mit Schnurrbart aus Braunau am Inn kommen würde, um uns Krieg und Rassenhass zu predigen, ihm würden wir nicht folgen.
    Daneben galt es, die Werte, die die Nazis unterdrückt hatten, zum Beispiel die »entartete Kunst«, wieder zu rehabilitieren. Picasso, Max Ernst, der Blaue Reiter, Dali, Kandinsky und Paul Klee, vor allem aber der wieder entdeckte mystische jüdisch-russische Surrealismus eines Marc Chagall gehörten dazu. Buchheim und Ketterer, das waren Namen, die diese Werke auch auf Auktionen aufwerteten. Richard Biedrzynski hatte in Hans Kinkel einen äußerst fähigen Berichterstatter über die großen Kunstauktionen, die die längst fällige Neubewertung der Moderne auf dem Kunstmarkt vollzogen.
    Einmal, ich

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