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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Monographie verfasst hatte. Der sprach von der »durchschlagenden Wirkungs losigkeit eines Klassikers« – Brecht war in die opernhafte oder operettenhafte Wirkungslosigkeit entrückt; sein Theater war nicht mehr Kampf oder gar Klassen kampf. Den Mackie-Messer-Song hatte längst auch Louis Armstrong gesungen. Bald darauf sollte ich eine üppig mit Bildern ausgestattete Monographie über Brecht für Helmut Kindler schreiben. Während der Arbeit entwickelte sich mein Text zum, so der Untertitel, »jüngsten Fall eines Klassikers« – das Wort »Fall« war durchaus doppeldeutig gemeint. Siegfried Unseld sperrte daraufhin alle Fotorechte für das Buch und es musste ohne Bilder erscheinen. Der Verleger Kindler war nicht sehr glücklich, dass ich aus einem Monument einen Fall gemacht hatte. Natürlich habe ich nicht etwa Brecht »gestürzt« oder das auch nur versucht; ich habe eine Zeitstimmung aufgespürt und festgehalten, die auch vor Brecht nicht Halt machte: »Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine«.
    Damals, als Strehler den »Guten Menschen von Sezuan« in Hamburg inszenierte, war Armgard Seegers Dramaturgie-Assistentin am Schauspielhaus und arbeitete an ihrer Dissertation über die Komik bei Karl Valentin. Armgard, mit der ich kurz darauf zusammenzog, die ich heiratete und mit der ich zwei inzwischen erwachsene Kinder habe, erzählte mir später von den Proben bei Strehler und wie er immer wieder zu den Schauspielern gesagt habe: »Nicht zynisch – menschlich!« Übrigens habe ich meine Frau nicht im Schauspielhaus, sondern bei einer James-Bond-Premiere im Kino kennen gelernt. Es war der Film »Der Spion, der mich liebte« mit Roger Moore als Bond, James Bond. Das Menschlichste an den Bond-Filmen war für mich ihr populistischer Zynismus.
    Die Hamburger Italiener, bei denen meine künftige Frau und ich uns damals trafen, hießen »Monsignore« hinter dem Schauspielhaus, »Paolino« beim Hansa-Theater und »Cuneo« unmittelbar neben den Fenster-Puffs der Herbertstraße in St. Pauli. In all diesen Lokalen tranken und diskutierten Schauspieler und Theaterleute in langen Nächten bis zum frühen Morgen. Einmal lud mich Peter Zadek zu einem Gespräch ins »Cuneo« ein und erläuterte mir seine Idee zu seiner Othello-Inszenierung am Schauspielhaus, die zum triumphalen Skandal werden sollte und zum (unangesagten) Ende der Brecht-Ära führte.
    Doch zurück zum »Italiener« in Stuttgart, zurück zum Restaurant »Vesuvio«. Der rauchende Vulkan in blühender Folklore war als Wandgemälde zu besichtigen – weit entfernt von der Vorstellung, die »Neapel sehen und sterben« heißt. Neapel habe ich erst rund fünfzig Jahre später gesehen, vor allem Goethes »Land, wo die Zitronen blühen«, die Amalfi-Küste, die mich verspätet in den Glücksrausch versetzte, den ich mir damals, vor der naiven Wandmalerei in einem scheußlichen Neubau-Restaurant, nur unvollkommen erträumen konnte. Ich war Baloun, der böhmische verfressene Tölpel, der zwischen Spaghetti vongole und Spaghetti bolognese nicht unterscheiden konnte. Was mir damals, mitten in den Feuilleton-Kriegen zwischen Melchingers Plädoyer für das Regie-Theater (er schwärmte für Gründgens' »Faust«, für die Anfänge Peter Brooks, setzte sich für Kurt Hübners Theater in Ulm, die Anfänge von Peter Zadek und Peter Palitzsch ein) und dem Kampf mit »Bie«, der auch als Theaterkritiker ein schlürfender Gargantua der Berliner zwanziger Jahre war, imponierte: wie die beiden mit dem Strehler-Double – wie der Wirt hieß, weiß ich nicht mehr – über »Insalata mista« diskutierten und sich von ihm, dem Padrone, wie von einem wohlwollenden Diktator beraten ließen.
    Er wischte ihre Wünsche mit einem gestikulierendem »Ah«, zu dem er beide Arme spreizte und die Hände beschwörend in der Luft schwenkte, weg. Wie alle italienischen Wirte damals, die sich die Deutschen wünschten, wenn sie »zum Italiener« gingen, war er ein unterwürfiger Despot, der am Ende mit Grappa diejenigen belohnte, denen er den Fisch und den Wein aufgezwungen hatte. Er rollte die Augen wie ein Schmierenkomödiant, und die Theaterkritiker, die die höchsten Finessen tschechowscher Psychologie im Theater abwägen konnten, fielen auf diese Nummer in masochistischer Verzückung herein: Sie wollten sich »beim Italiener« wie Kinder im Kasperletheater fühlen, und ein wortgewaltiger dicker Berliner wie Richard Biedrzynski, der sich die Hose über dem Bauch beim Essen

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