Auf der Flucht
so sagen: Bei Friedrich Beissner habe ich lesen gelernt. Und das ist schon ziemlich viel.
Eines Tages hat mir Beissner, nach einem Seminar, in dem ich Rilkes Gedicht »Der Panther« interpretiert hatte, angeboten, bei ihm eine Doktorarbeit zu schreiben. Es sollte, grob gesagt, um das »so genannte schmückende Beiwort« gehen, das epitheton ornans. Beissner war dabei, eine neue Poetik zu entwickeln, und ich sollte ein Lego-Steinchen dazu liefern. Ich schrieb eineinhalb Jahre an meiner Arbeit, ließ sie abschreiben und übergab sie artig meinem Doktorvater. Dann hörte ich einige Monate nichts von Beissner, bis er mich schließlich nach einer Doktoranden-Seminarsitzung zu einer Aussprache in sein Sprechzimmer lud. Das Sprechzimmer lag in der »alten Aula« der Universität im ersten Stock, in einem Bau mit einer ehrwürdigen Handbibliothek mit Lederbänden, die meisten aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Im Flur vor dem Sprechzimmer prangte eine Wandmalerei, auf der Zeus in seiner Metamorphose als Schwan in Leda eindringt, die sich ihm wollüstig entgegenstreckt und öffnet, den schönen Kopf lustvoll zurückgeworfen. Für das pietistische Tübingen war das ein ungewöhnlich freudvolles Fresko.
Als ich die Sprechstunde verließ, war ich so verstört, dass ich keinen Blick für die beglückte Leda und den beglückenden Schwan hatte – nur im Hinterkopf wusste ich, dass diesem Akt Herakles entsprungen wäre, ein Halbgott, den Hölderlin in seinen späten Hymnen in einen pantheistischen Himmel neben Christus und Napoleon, jawohl: Napoleon, gestellt hatte. Hölderlin hatte nur ein paar Häuser weiter, im Stift, gelebt.
Ich stolperte die ausgetretenen Holztreppen hinunter, hinaus ins Freie, in den gewaltigen Schatten der Stiftskirche. Meine Arbeit war verworfen worden, Beissner hatte sich »enttäuscht« gezeigt von mir, ich müsse »noch viel« Arbeit an meine Dissertation verwenden. Seine Einwände hatte er, abgesehen von ein paar Tippfehlern in zitierten Gedichtzeilen (für ihn natürlich eine Todsünde, verständlicherweise), nicht näher spezifiziert, auch auf Fragen nicht – er hatte nicht viel Zeit.
Am gleichen Abend war ich in einem Studentenlokal, der »Tante Emilie«, eine Wendeltreppe führte von der Milchbar an der Neckarbrücke hinunter zu dem kellerartigen Verlies am Neckarufer, nahe dem Hölderlin-Turm. Ich trank, wie üblich, ein Bier aus der Flasche, dann noch eines. Zu meinem Glück saß in einer Runde an einem anderen Tisch eine Assistentin Beissners, die ihm bei seiner Arbeit im Hölderlin-Archiv in Bebenhausen (wo die Große Stuttgarter Ausgabe entstand) zur Hand ging. Sie sah mich, setzte sich zu mir und sagte, sie wisse, warum ich verzweifelt sei, meine Arbeit sei abgelehnt worden. Aber, fuhr sie fort, sie könne mich trösten. Abgesehen von einigen Tippfehlern, kranke die Arbeit nur an einem wesentlichen Punkt. Es fehle ihr eine erste Seite, eine Vorbemerkung des Inhalts, dass ich die Anregung zu meiner Arbeit »meinem verehrten Lehrer« verdanke, der mir jederzeit, wie ich noch am gleichen Abend stolz formu lierte, jederzeit »mit förderndem Rat und helfender Unter stützung« zur Seite gestanden habe. »Fördernder Rat und helfende Unterstützung«, diese schmückenden Beiwörter haben mich dann doch promoviert und zum Doktor gemacht, und meine Freunde, die nach mir ihre Arbeiten ablieferten, zum Beispiel Rolf Michaelis, haben ähnliche oder gleiche Formulierungen benutzt – vielleicht zur Abwechslung »helfender Rat und fördernde Unterstüt zung«, oder: »Unterstützender Rat und fördernde Hilfe«.
Wie mir Beissners Assistentin geraten hatte, ließ ich die Arbeit danach, damit es nicht so auffiele, zwei Monate ruhen, dann gab ich sie »meinem verehrten Lehrer«, der mich bald darauf zum Rigorosum laden ließ. Selbst in dem schönen Reich der Poesie läuft die Welt, wie sie läuft. Das Bild von Leda und dem Schwan hat mir nach geglückter Promotion wieder gefallen, obwohl ich bis heute nicht weiß, wer das Fresko gemalt hat.
Josef Eberle, dem ich als Herausgeber der »Stuttgarter Zeitung« erst Anfang der sechziger Jahre begegnete, als ich, zuerst als Volontär und einige Monate später als Redakteur, in das Feuilleton seiner Zeitung aufgenommen wurde, hatte sich schon in den Fünfzigern eifrig als Mäzen der Altphilologischen Fakultät der Tübinger Universität hervorgetan, weshalb ihm damals auch die Ehrendoktorwürde verliehen worden war. Seine lateinischen Gedichte
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