Auf der Flucht
Tisma, weder Tucholsky noch Karl Kraus gelesen hatten noch je lesen würden. Meine Eltern waren »einfache« Leute und ich hoffe inständig, dass sie kaum mitgewürfelt haben, sondern mitgewürfelt wurden. Ich möchte sie schon allein, weil sie mich nie geschlagen haben, liebend der Seite der Geschlagenen zurechnen.
Jetzt, da meine Mutter über neunzig Jahre alt ist, hadert sie mehr und mehr über die heutige Schlechtigkeit der Welt – wie sollte es anders sein?
Meinem Vater begegne ich jetzt mehr und mehr in meinen Träumen, in Situationen, wo wir uns helfen müssten, wenn wir könnten. Und ich bin dann erschrocken, weil ich ihm im Traum von Gleich zu Gleich lebendig begegne: Das bedeutet ja, dass ich mit ihm tot sein müsste, um mich »so« mit ihm unterhalten zu können. Als ich jung war, ein junger Familienvater, habe ich, so erinnere ich mich jetzt oft, einen schweren Traum gehabt, in dem ich wusste, ich hätte jemanden ermordet, erschlagen, umgebracht. Und nicht so sehr das Verbrechen entsetzte mich, das auch, sondern vor allem, dass ich diese Tat für immer verbergen müsste und fortan in ständiger, ja ewiger Angst leben würde, meine Tat könnte auffliegen, meine Existenz vernichten, mit einem Schlag. Wenn ich diese Träume rückschauend analysiere, weiß ich, dass sie in die Zeit fielen, als die Verjährungsdebatte über die Kriegsverbrechen und Völkermordverbrechen der Hitler-Jahre geführt wurde.
Für meine Kinder ist Hitler eher eine Art Comic-Figur; sie kennen ihn natürlich aus der Geschichte, aber sie sehen ihn mit den Augen von Kinogängern, die Mel Brooks »Frühling für Hitler« gesehen haben oder Chaplins »Großen Diktator« oder Lubitschs »Sein oder Nichtsein«. Er ist ein Popanz und sie schütteln den Kopf, so meine ich, darüber, dass »so etwas« noch zu Lebzeiten ihres Vaters und ihrer Großmutter die Welt regiert hat. Zwischen mir und meinen Kindern ist Hitler kaum noch ein Thema. Ich glaube auch, dass er zwischen ihnen und ihren Altersgefährten kaum ein Thema ist.
Und dann denke ich, wie wenig gleich die Welt von 1952 und die von heute ist (auch wenn meine Erinnerung sie manchmal egalisiert), vor allem weil damals fast alle, die lebten, noch Hitler erlebt hatten. Ich meine nicht die vielen, die als Krüppel, als Invaliden das Inferno überlebt hatten und mit angehefteten Hosenbeinen und Holzkrücken über die Straßen humpelten. Ich meine auch nicht die gezackten Schatten der Kriegstrümmer, sondern einfach eine Welt, die noch die Zeit Hitlers erlebt hatte, egal ob als Opfer, Mitläufer, Bewunderer, Feind, Gegner, als Sieger über Hitler oder Verlierer mit und durch Hitler. Einfach eine Zeit, in der er mehr war als ein Name, in der sein Reich über die Menschheit gekommen war.
Das Tübingen, in das ich im November 1952, also vor reichlich fünfzig Jahren, kam, wirkte damals auf mich wie aus der Zeit gefallen, vom Kriege unversehrt, vom Nachkrieg äußerlich seltsam unberührt. Die Studenten, hager, im Winter in Windjacken gekleidet, im Sommer viele in kurzen Hosen, kamen aus der »Nie wieder Krieg«-Generation, aber der Geist der Rebellion, der die pietistische Universitätsstadt mit ihrer buckeligen Burg, den sie gegen den Neckar hin schützenden Fachwerkfronten, dem Hölderlin-Turm, den Platanen und den in ihren Fugen und Balken gichtig verschobenen Stifts- und Universitätsbauten der Altstadt, später erschüttern sollte, der schlummerte noch. Man schien danach zu trachten, in der alten Stadt nach Jahren der Wirren und der Schrecken die alte Ordnung zu suchen.
Gewiss, als junger Geschichtsstudent konnte ich die Seminare von Hans Rothfels besuchen, die der Rehabilitierung des deutschen Widerstandes galten, dem »besseren Deutschland«. Theodor Eschenburg, den ich sehr schätzte, informierte uns über die demokratischen Ansätze der kurzen Weimarer Zeit. In Vorlesungen über deutsche Barock-Dichtung war damals präsent, was sich heute zur Erkenntnis verdichtet: Deutschland hatte zum zweiten Mal in einem dreißigjährigen Krieg gerade noch seine totale Vernichtung überstanden.
Zum ersten Mal hörte ich bei Friedrich Beissner, wie er in seinen Vorlesungen über das »deutsche Gedicht in drei Jahrhunderten« Gryphius' Alexandriner so vorlas, dass man die Zerissenheit der Barockwelt, ihre Todes- und Zerstörungserfahrungen allein in den Zäsuren jeder Zeile zu spüren schien. Beissner sollte mein Lehrer werden, mein Doktorvater, und ich erinnere mich ganz genau, wie ich ihn
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