Auf der Flucht
Meter gezeigt. »So«, sagte er, »mit dem Wort ›so‹ treten mir die Leute entgegen und nehmen einen Meter Maß zwischen ihren Händen, ›so groß haben wir Sie gekannt, als Ihr Vater noch in Stuttgart war‹.« Mein Sohn, damals Anfang dreißig, hatte gegrinst dazu, spöttisch gequält.
Inzwischen hat mein Alter alles versöhnt, mit Siebzigjährigen hat man diesen Kummer nicht mehr.
Meine Tochter Laura hatte mit mir kaum Probleme; sie genoss es und genießt es, von ihrem Vater ausgeführt zu werden und ich genieße es, mich in ihren jungen, schönen Gedanken zu sonnen. Väter und Töchter sind wie Spiegel, in die wechselseitig ein wohliger Glanz fällt. Einmal, bei einem Filmball, bin ich dann, meiner Altersklasse entsprechend, früher gegangen; auch das ist wichtig, dass man sich rechtzeitig aus dem Staube macht, wenn die Tochter eine gleichaltrige Gesellschaft gefunden hat. Und so hat sie mir am nächsten Tag voller Hohn und Stolz erzählt, ein junger Mann, der mich nicht kannte und erkannte, habe sie gefragt, warum sie sich mit einem so alten Kerl einlasse, der müsse sicher sehr viel Geld haben, um sich eine so junge, hübsche Freundin halten zu können. »Und dann«, sagte meine Tochter, »war er sehr erleichtert, als ich ihm sagte, du seist mein Vater.« »Und«, fragte ich, »war er reich?« Sie zuckte die Achseln, »keine Ahnung!«. Dann lachten wir beide. Nein, Töchter und Väter haben kein Problem. Meist nicht.
Gegen Ende meines Studiums besuchte mich einmal meine Mutter in Tübingen. Sie muss damals Ende vierzig, Anfang fünfzig gewesen sein. Ich weiß noch, wie ich mich ent setzte, als sie mir erzählte, ein Mann im Zug habe mit ihr zu flirten versucht und ihr gesagt, sie habe schöne Beine. »Und!«, sagte ich empört, »und das hast du dir angehört?«
Als ich mit achtzehn Jahren in Tübingen anfing zu studieren, war ich sozusagen ohne Eltern. Ich musste mich nicht, wie meine jüngeren Geschwister, an ihnen abarbeiten. Als ich nach und nach mit immer wachsenderem Schrecken und Entsetzen erkannte, was die Nazis in Deutschland, in Russland und in Polen angerichtet hatten, konnte ich meine Eltern weder fragen noch anklagen.
Ich habe mich vor schuldig gewordenen Menschen aus ihrer Generation gegruselt, als ich das Ausmaß der Verbrechen erkannte und kennen lernte, die sie in der Nazizeit begangen hatten, Verbrechen, die sich mit Namen wie Stalingrad, Leningrad, Treblinka, Auschwitz, Lidice, Oradour verbinden lassen. Ich hatte damals alle aus der Generation meiner Eltern vor Augen, nur meine Eltern nicht, die von mir durch einen Eisernen Vorhang getrennt waren. Und später war es zu spät für eine Auseinandersetzung.
Als meine Eltern nach Würzburg kamen, führten sie einen so verzweifelten Kampf, um sich und meine jüngeren Geschwister durchzubringen, dass ich ihnen nur mit schuldhafter Verlegenheit – ich war ja als Student und junger Journalist »fein raus« – gegenübertreten konnte. Als mein Vater dann alt war (so alt wie ich heute langsam und immer schneller werde), fielen ein paar verlegene Sätze: »Wir haben doch nichts gewusst.« Ich aber wusste, dass sich meine Eltern auf den Heimattreffen mit alten »Bielitzern« und alten »Brünnern« eher als Opfer, weniger als Täter fühlten. Und ich war ihnen ein allzu parteiischer, liebender Anwalt: Ich ließ ihnen kleinlaut ihre Ausflüchte. Sosehr ich mich schämte, Deutscher zu sein, sosehr für unsere Geschichte – meine Eltern habe ich dabei stets ausgeblendet. Ihr Leben wurde für mich erst zeitversetzt wieder lebendig. Ich ging allein durch das Studium, das auch und vor allem ein Geschichtsstudium war, das der jüngsten Vergangenheit.
Das Hitler-Regime war für mich zunächst ein barbarisches Regime, das alles an Kultur und an Literatur zerstört hatte, was mir nahe ging, was ich liebte und liebend kennen lernte. Eines der schlimmsten Bilder war für mich das von Ossietzky im Konzentrationslager: der kleine große Mann, der zivile Geist neben einem stiernackigen SA-Wärter mit brutalem Gesicht, dem er recht- und gesetzlos ausgeliefert ist, auf Gedeih und Verderb. Nein, nur auf Verderb.
Mit meinen Eltern konnte ich nie über Ossietzky oder Kafka oder Karl Kraus sprechen. Sie hätten das Entsetzen nicht verstanden, das mich erfasste, als ich von den Bücherverbrennungen erfuhr. Sie hätten meine Sympathie für Reich-Ranicki, Billy Wilder, für Kertesz nicht verstanden, schon allein deshalb nicht, weil sie weder Kertesz noch
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