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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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im Wintersemester 52/53 in seiner ersten Vorlesung Matthias Claudius vortragen hörte, das schönste deutsche Abendlied, das, ähnlich wie Schillers Ode an die Freude (die später zur Hymne der Wiedervereinigung wurde), die Brüderlichkeit, die Solidarität beschwört – allerdings im Kleinsten der heimeligen Welt, wo Schiller pathetisch ins Größte ausschreitet: ins All. Darunter tat er's nicht! Dagegen holt Claudius das All in die nächste Nähe.
     
    So legt euch denn, ihr Brüder,
    In Gottes Namen nieder;
    Kalt ist der Abendhauch.
    Verschon uns, Gott! mit Strafen,
    Und lass uns ruhig schlafen
    Und unsern kranken Nachbarn auch.
     
    Beissner war ein unpathetischer, sehr genauer Leser, der keineswegs wie ein Schauspieler rezitierte; er hatte »nur« verstanden, was er vorlas in Form und Struktur, in dem, was ihr Geist war, ob es sich um ein scheinbar so schlichtes Gedicht wie das »Abendlied« von Matthias Claudius oder um so komplizierte tektonische Gebilde wie Hölderlins »Vaterländische Gesänge« oder Rilkes »Duineser Elegien« handelte. Nie hat ihn Ideologisches bewegt, und so war er gewiss ein »Formalist«; sein Lieblingszitat lautete: »Das Was bedenke, doch mehr bedenk das Wie.« Damals war das reine »Sprachkunstwerk« als Programm angesagt, er war der erste Lehrer, der mir die Schönheit und Sprachkraft Brechts, Musils und Kafkas nahe brachte.
    Vielleicht habe ich, etwas pathetisch ausgedrückt, bei Beissner gelernt, dass es ein schönes Zuhause gibt: das der Sprache. Es reicht von Gryphius bis Brecht und Celan, Kafka und Thomas Mann. Beissner war von seiner Herkunft her ein akribischer Philologe, Graecist und Latinist, der bis zur Pedanterie genau war, als »Erbsenzähler« wurden solche Wissenschaftler später gern geschmäht, als es bei den Achtundsechzigern um das große Ganze ging, das man dialektisch anpeilte und Details als läppisch galten. Beissner verstand es, die Welt der deutschen Literatur geradezu philologisch naturwissenschaftlich aufzuschlüsseln, aber der Preis dafür war die schulmeisterliche Enge des Gelehrten, dessen leicht zu verletzendes Selbstgefühl sich auf starre Regularien und Formalien versteifte. Ich sehe ihn noch, leicht gebeugt, stets Schweiß auf der hohen Stirn, mit leicht vorquellenden Augen über die Wilhelmstraße gehen, wohin ich ihm einmal folgte und die Aktenmappe trug. Er ging schwer und konnte den Kopf mit dem steifen Hals nur wenden, wenn er den Oberkörper mitdrehte, und dabei sah er einen mit prüfender Verwirrung an.
    Bei ihm habe ich gelernt, was ein Anapäst ist, ein Daktylus, ein Hendekasyllabus, was die Falkentheorie, die belebte Rede, die Mauerschau, der Botenbericht bedeutet, der innere Monolog, der allwissende Erzähler.
    Manches konnte ich später als Firlefanz parodistisch darstellen, indem ich etwa die erste Hexameter-Zeile aus Goethes »Reinecke Fuchs«, »Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen: es grünten und blühten / Feld und Wald«, zitierte und dann dozierte: »Wenn man beim Hexameter die Cäsur post quartum trocheum setzt, wie es Goethe hier tut, dann zerfällt der Vers, weil er sich von hinten aufschlüsselt, zur Amphibrachien-Schaukel.«
    Wer liest heute noch Versepen? Wer will heute noch wissen, was Jamben, Trochäen, Amphibrachien sind, Enjambements in Gedichten, warum sich ein Sonett zwischen den zwei Viererstrophen und den zwei Dreierstrophen dialektisch wendet, wen interessiert noch die »harte Fügung« Hölderlins, seine an der Dialektik seines Stiftsfreundes Hegel geschulte Theorie von dramatischer Lyrik, lyrischer Epik, epischer Dramatik? Und wen noch die Novellen-Theorie? Als die »Süddeutsche« kürzlich mit ihrer Reihe »Fünfzig große Romane des zwanzigsten Jahrhunderts« eine Werbekampagne für die Literatur begann und zu den Romanen auch »Katz und Maus« von Grass und die »Traumnovelle« von Schnitzler in ihren Kanon fügte, rief ich die Redaktion, halb im Scherz, an, und merkte an, dass »Katz und Maus« kein Roman sei. »Ja, aber, wer im Ernst unterscheidet das heute noch?«, fragte mich am Telefon amüsiert ein Redakteur. Ja wer? Die Poetik, die Beissner lehrte und die er nicht über die Werke verhängte, sondern aus ihnen herauslas wie ihren Bauplan, um sie transparent zu machen, die Poetik existiert nicht mehr. Und dennoch war sie es, wenn ich es recht bedenke, die mich für einen Patriotismus gewann, der einer der Sprache war und mich gegen einen Patriotismus der Ideologien immun machte. Man kann es auch

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