Auf der Flucht
gehalten werden konnte, stießen mit einer überholten Gesetzgebung zusammen. Der Ehebruch war noch ein Paragraph im Strafgesetzbuch, Homosexualität wurde noch strafrechtlich verfolgt, die Kinderverhütung fand noch ohne Antibabypille statt – die Hälfte der Kinder bringt der Storch, die andere Hälfte stammen von Knaus-Ogino, lautete ein Spruch, der sich auf die damals gängige Verhütungsmethode mittels der Temperaturmessung bezog.
Im Rückblick finde ich es schon komisch, dass ich damals bei Professor Kluckhohn das Drama des »Sturm und Drang« vom Ende des 18. Jahrhunderts studierte, den »Urfaust«, die »Kindsmörderin«, »Evchen Humbrecht oder ihr Mütter merkt's euch«, den »Hofmeister« vom Goethe-Freund Lenz mit seiner grässlichen Selbstkastrationspointe, und heute weiß, dass ich in meinem kopfschüttelnden Staunen über die sexuell so wenig gute alte Zeit nicht wusste, wie sehr ich noch in ihr lebte. »Abtreibung«, das war damals ein Verbrechen, das der Kindstötung des »Urfaust« noch ziemlich nahe stand. Ärzte, die sie vornahmen, lernte man, nach der Aburteilung, als Pharmavertreter kennen; Geschichten von »Engelmacherinnen« hörte man mit Schrecken und Schaudern; ebenso Geschichten von verzweifelten Mädchen, die zu heiße Bäder nahmen, sich mit Stricknadeln furchtbar traktieren ließen oder auf die abortierende Kraft von Kräutern, Glühwein und den Sprüngen von hohen Leitern hofften.
Ich hatte einen Freund, der zusammen mit seiner Freundin Medizin studierte, ich traf sie manchmal zum Mittagessen in der Mensa oder abends in einer Kneipe. Eines Abends kam er ohne sie, saß da, dumpf vor sich hinstarrend, vor seinem Wein-Viertele und gab mir auf die Frage, was denn passiert sei, die knappe Antwort: »'s isch ausbliebe.« Mit diesem Seufzer wurde damals der Keim für Ehen und Familien gelegt – in sämtlichen deutschen Mundarten.
Wenn ich an Lenzens »Hofmeister« denke, aus dem Brecht, wohl auch in Anlehnung an die Nöte seiner Augsburger Jugend, eine klassenkämpferische Version an seinem Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm formte, so erinnere ich mich an die sechzehnjährige Schwester meines Nachhilfeschülers. Ich kam am Nachmittag zu dem Beamtensohn, um mit ihm Latein und Mathe zu pauken, wir saßen im Wohnzimmer, er mit dicker Brille vor seinen Heften, und dann kam wie zufällig seine Schwester herein, bückte sich mit ihrer hinreißenden Figur vor irgendeiner Kommode und mir Zwanzigjährigem brach der Schweiß aus. Natürlich war ich in Wahrheit weit von den Nöten des Hofmeisters entfernt – weit, aber nicht weit genug.
Tübingen war, wie gesagt, eine pietistische Alma Mater, die Mädchen waren für die Horden lediger junger Männer in schrecklicher Minderzahl, und in die Bänke der Hörsäle war, in tadellos fehlerfreiem Latein, in dem auf »ut« der richtige Konjuktiv folgte, der Seufzer eingeschnitzt: »Raro modo accidit, ut studiosa pulchra sit«, was, einfach übersetzt, heißt, dass Studentinnen selten auch noch hübsch sind. In diesem Spruch, sicher von picklig hässlich linkischen Studenten in die Bank geschnitzt, spiegelte sich nicht nur die klassische Bildung damaliger Erstsemester (man musste das Große Latinum als Voraussetzung für die Zulassung zum Philologiestudium bestanden haben), sondern auch die noch in die fünfziger Jahren nachhallende Idee vom »Blaustrumpf« – eine Frau, die studiert, muss es »nötig haben«. Nötig haben hieß, weil man keinen Mann abbekommen hat, auf eigenen Beinen stehen zu müssen. Klar: Studieren machte damals noch kurzsichtig (wie Onanieren das Rückenmark beschädigte), und studierende Mädchen trugen also Brillen, hießen also »Brillenschlangen«, und es gab den Spruch: »Mein letzter Wille, eine Frau mit Brille.« Höhnisch wurde das Telegramm zitiert, das die Studentin am Ende ihres Studiums nach Hause schickt: »Studienziel erreicht, habe mich verlobt.« Allerdings hing, gewissermaßen als Pendant, ein Titelblatt (ich glaube von Th. Th. Heine) des »Simplicissimus« in einer Studentenkneipe. Darauf zwei Korpsstudenten mit Band, Mütze und zerhacktem Gesicht. Dazu die Überschrift »Studienziel erreicht«. Und der Text, den der eine zum anderen sagt: »Ich glaube, ich muss mein Studium beenden! Ich werde von nix mehr betrunken.«
Es waren andere Zeiten, wirklich! Mir fällt dazu eine Szene ein, die sich vor der neuen Aula in der marmornen Vorhalle des Auditorium Maximum abspielte – ungern erinnere ich mich, dass ich da,
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