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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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letzten Kriegstage als Flakhelfer erlebt. Er ging mit einer Studentin, die klein war, mir nicht gefiel, schon wegen ihres pickligen Gesichts, und ihre Frisur hinten zu einem Glaubensknoten gebunden hatte. Nicht einmal Schwäbin war das Mädchen, sie sprach mit jenem norddeutschen Hohlklang, der hier in Tübingen heimatlos und hochgestochen klang – dass ihr Freund das nicht merkt, dachte ich, denn er sprach breitestes Schwäbisch und ich war päpstlicher als der Papst, in meinen Hör-Ansprüchen, schwäbischer als der schwäbischste Schwabe.
    Der alljährliche Germanistenball stand bevor. Er sollte wieder im »Museum« stattfinden, das unten ein Kino, gelegentlich ein Gastspieltheater war und oben ein Restaurant, in dem ich mir bei besonderen Anlässen (wenn ich als Werkstudent in den Semesterferien im Bergbau in Gelsenkirchen, auf Dahlbusch, oder beim Daimler in Sindelfingen mit einigem Ersparten nach Tübingen zurückkam) »Russische Eier mit italienischem Salat« gönnte – der Inbegriff einer Köstlichkeit. – Neben dem Restaurant lagen noch Ballsäle.
    Mein Freund Gerd aus Heilbronn also fragte mich, ob ich denn zum Germanistenball gehe. Ich bejahte. Allein?, fragte Gerd. Wieder sagte ich »Ja«. Ob ich denn dann seine Freundin mitnehmen könne, denn er sei leider verhindert, weil sein Vater in Heilbronn genau an dem Tag seinen Geburtstag feiere. Ich würde ihm einen großen Freundesdienst erweisen, denn seine Freundin habe sich den Ball so sehr gewünscht. Für mich gab es kein Entrinnen. Und noch heute erinnere ich mich mit aller schmerzenden Deutlichkeit, wie ich gelitten habe, als ich mit einer Partnerin und Tischdame auftreten musste, für die ich mich schämte, weil sie nicht meinen Geschmacks- und Imponiervorstellungen entsprach. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, ihr ein Schild um den Hals hängen zu dürfen, auf dem zu lesen gewesen wäre, dass sie nicht zu mir gehörte, dass ich vielmehr als ihr Begleiter nur einen Freund verträte, der merkwürdigerweise und ausgerechnet – Geschmäcker sind verschieden – in diese Frau verliebt wäre. Schillers Ballade von der »Bürgschaft« kam mir in den Sinn: »Ich lasse den Freund dir als Bürgen / Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.«
    Dies war ein – wie ich nachträglich weiß – dekuvrierendes Schlüsselerlebnis, ein Beweis für die Tatsache, dass ich immer noch ein äußerst fragiles Selbstwertgefühl hatte: Immer fürchtete ich, durch andere blamiert, bloßgestellt werden zu können. Siedend heiß fällt mir dazu meine Mutter ein. Wie sie vor fremden Leuten dem kleinen Jungen, der ich war, mit dem Taschentuch, das sie zu diesem Zweck bespuckt hatte, über den Mund fährt, um mich zu säubern. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Genauso wie auf dem Germanistenball, auf dem die Freundin meines Freundes nicht müde wurde, fröhlich und bestgelaunt mit mir zu tanzen. Ohne dabei ein Schild am Halsband zu tragen, auf dem zu lesen steht, dass sie nicht meine, sondern die Freundin eines Freundes ist. Damals las ich David Riesmans »Die Einsame Masse«. Dass ich ein »außengeleiteter Mensch« wäre, auch als Ballpartner, kam mir aber nicht in den Sinn.
    Kannte ich damals schon die Heine-Zeilen:
     
    Blamier mich nicht, mein schönes Kind,
    Und grüß mich nicht Unter den Linden;
    Wenn wir nachher zu Hause sind
    Wird sich schon alles finden
     
    Ich glaube nicht, dass ich sie schon kannte. Auch passt es weniger zu der eingebildeten Blamage des Tübinger Germa nis tenballs als zu vielen späteren, wenn ich die Lust der Nacht am helllichten Tag nicht mehr wahrhaben wollte. »Die trink ich mir schön!«, hieß eine sarkastische Redens art in Tübingen, wenn es in der Nacht immer enger wurde. In Tübingen? In den fünfziger Jahren?
    Im Tübinger »Museum« habe ich damals übrigens Theatergastspiele gesehen, den »Hamlet« mit Oscar Werner werde ich nie vergessen, und Helmut Lohner, den ich nach der Vorstellung um ein Autogramm bat. Oder Werner Kraus in Priestleys »Schafft den Narren fort«, wo er, wenn ich mich recht erinnere, einen Bischof im lila Ornat spielte. Noch heute habe ich alle drei bildhaft bewegt vor Augen.
    Die intakte deutsche Provinz, ob Göttingen, ob Tübingen, ob Celle, in ihr überlebte in diesen Jahren auch das deutsche Theater. Dann, in Stuttgart, in der »kleinen Königstraße« (das »richtige« Theater war zerbombt) sah ich Noeltes Inszenierung der »Kassette« von Sternheim. Eine grandiose Abrechnung Sternheims mit dem

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