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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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wenn die Suchtnot am größten war, heimlich eine Zigarettenkippe aufgehoben habe. Ich warte also frühmorgens vor dem Audimax, in dem der damals berühmte Erziehungswissenschaftler und Philosoph Eduard Spranger seine Vorlesung zum »Studium generale« hielt und Gott mit Kreisen und Pfeilen entweder als geometrisches Gebilde des Pantheismus oder als »Uhrmacher« des Deismus mit Kreide an die Tafel malte. Die Pfeile symbolisierten Gottes Macht, die Kreise unsere Welt und, kleiner, uns Menschlein. Ich warte, es ist 8 Uhr, noch nicht 8'c.t., da höre ich zwei Studenten zu, die sich in aller Herrgottsfrühe darüber unterhalten, ob sie bereit wären, eines Tages eine Frau zu ehelichen, die nicht mehr »virgo intacta« wäre. Ich hörte dem zu, als ginge es in dem Gespräch nicht um Absurditäten, sondern um das Selbstverständlichste der Welt – dabei lag Tübingen nicht in Sizilien, wo nach der Brautnacht das blutende Bettlaken öffentlich als Beweis gezeigt wurde, dass die Frau erst in der Hochzeitsnacht ihre Unschuld verloren hat. Und das, obwohl ich längst nicht mehr nur »Evchen Humbrecht oder ihr Mütter merkt's euch« las oder Hebbels dumpfes »Maria Magdalena«-Drama (wo der edle Friedrich sagt, nachdem ihm Klara ihre »Schande« gestanden hat, mit einem anderen geschlafen zu haben: »Darüber kommt kein Mann hinweg«), sondern durchaus die Autoren des 20. Jahrhunderts.
    Wie ich rückblickend weiß, bahnte sich damals unter der scheinbar starren Kruste der Tradition, die versuchte, wieder Ordnung in das gerade erlebte Chaos zu bringen, das Grauen der Gesetzlosigkeit zu bannen, die große Veränderung an, die sexuelle Revolution begann. 1959 wurde die Antibabypille erfunden und begann ihren Siegeszug um die Welt; das Scheidungsrecht wurde nach und nach entkriminalisiert, der Kampf gegen den Paragraphen 218 begann. Bald darauf erschien auch in Deutschland der Kinsey-Report – über den sich die öffentliche Moral und veröffentlichte Meinung zur Abwehr lustig machte –, dessen emanzipatorische Folgen für die Sexualaufklärung aber nicht hoch genug einzuschätzen sind. Waren es bisher nur die Kunst und Literatur, die Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, Karl Kraus und Schnitzler, Proust und Oscar Wilde, die dem Einzelnen in seiner Entwicklung halfen, indem sie ihn nicht allein ließen, also Solidarität in den Erfahrungen der Triebunterdrückung stifteten, so gab es jetzt den sozusagen statistischen Beweis für Triebunterdrückung und Doppelmoral. Und mindestens so wichtig in dem Zusammenhang wurde die Verfügbarkeit des Penicillins. Sexualität stand auf einmal nicht mehr unter dem Strafgericht der angedrohten Geschlechtskrankheiten.
    Überhaupt schien die Menschheit einer gesunden, von allen Krankheiten nach und nach befreiten Zukunft entgegenzugehen. Diesen Optimismus hat, was die Sexualität betrifft, erst das Aids-Virus wieder vernichtet. Vorher wähnte man sich vor derartigen Gefahren sicher – weder unerwünschte Kinder noch tödliche Geschlechtskrankheiten bedrohten die Liebe. Das Glück freier, gleichberechtigter Menschen war nahe, Lust nicht mehr unmoralisch. Hygiene und Medizin schienen eine neue hedonistische Gesellschaft zu garantieren. Deren neue Schrecken, Schmerzen und Abgründe hatte sie noch nicht erfahren, noch nicht durchlebt, sie waren unentdeckt, unbekannt. In den nächsten Jahren schien es, als bräche die Stimmung eines ewigen Karnevals aus.
    In Tübingen war von diesem mählichen Umschwung von der Nachkriegsgesellschaft zur Lust- und Spaßgesellschaft allerdings weniger zu merken als in norddeutschen Großstädten, zu sehr beugte sich die pietistische Kleinstadt in die verbuckelte Enge ihrer steilen Gassen wie in das Korsett einer Tradition zurück.
    Für Techniken der Sexualität gab es kein Vokabular unter Liebespaaren, es herrschte Sprach- und Ratlosigkeit, die sich in Witzen über die Hochzeitsnächte junger Theologen niederschlug. So erzählt die Braut eines Vikars nach der Hochzeitsnacht auf die Frage ihrer Mutter, ob denn nichts »passiert« sei und ob ihre Tochter »glücklich« sei: doch, doch, glücklich sei sie. Und ob etwas passiert sei? In der einen Version des Witzes habe der Vikar sie mitten in der Nacht unterm Kinn gekrault und dann stolz zu ihr gemeint: »Gell i bin ein Wilder!« Nach der anderen Version habe er wie wild ihren Körper untersucht, um dabei zu stammeln, dass sich doch nach Aussagen eines Freundes »hier irgendwo ein Loch befinden müsse«. Großes

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