Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
Vom Netzwerk:
Gelächter beim Erzählen dieser Witze in Jungmännerrunden, bei denen alle so taten, als seien sie erfahrene Lebemänner, während ich im Rückblick annehme, dass die meisten einsame Onanisten waren. Unter Studenten kursierte der Spruch: »So leb denn wohl, mein einzig Lieb / Ich kehr zurück zum Handbetrieb.«
    Ich kann mich im Übrigen nicht an ein einziges Gespräch auch mit meinen besten und engsten Freunden über die Selbstbefriedigung erinnern. Das hatte sicher keineswegs einen moralischen Grund, aber kein junger Mann, der auf sich hielt, hätte damals die Schwäche zugegeben, sich ohne Selbstbefriedigung nicht helfen zu können. Man musste ein Kerl sein, ein ganzer Kerl; und erst Jahre später hörte man im Kino Woody Allen sagen, Onanie sei Liebe mit einem Menschen, den man besonders gern habe. In der zotigen Version des Wilhelm-Busch-Alphabets hieß es: »Die Orgel durch die Kirche braust. Der Onanist tut's durch die Faust.« Und »Wichser« ist ja in der Tat bis heute noch nichts anderes als ein verächtliches Schimpfwort.
    Aber wenn sich Studenten noch allen Ernstes darüber unterhielten, dass man nur ein »unbescholtenes Mädchen« heiraten könne – hieß das in sprachlicher Logik, dass der Beischlaf vor der Ehe Unehre bringen würde. Da herrschte in den Köpfen noch als wirres Konglomerat die Vorstellung, dass es anständige Frauen gäbe, die es vor der Ehe nicht täten, und die anderen waren die Huren, mochte sie Goethe im »Faust« noch so sehr verklären.
    Wie die meisten Menschen (übrigens: aller Zeiten!) bin ich ins Leben getreten, soll ich sagen: gestolpert, ohne allzu viel von ihm zu wissen. Jedenfalls nicht genug. Ich hätte beispielsweise nie gewagt, mich einem Mädchen, das ich liebte (»Liebe« war eine Mischung aus meinem lyrischen Repertoire und dem Missverhältnis zwischen erotischer Phantasie und sexueller Praxis), mit einem Präservativ zu nähern, solch technisch prosaische Vorgehensweise schien mir unmöglich, der Angebeteten nicht zumutbar; hatte sie dagegen ganz »prosaisch« Vorsorge getroffen und zog mir das Präservativ über, dann bewunderte ich sie grenzen- und vorbehaltslos für ihre »Weltläufigkeit«, »Aufgeschlossenheit«, »Moderne«. Ich war ein spießiger Kleinstädter mit weltstädtischen Wünschen und Phantasien.
    Mädchen, die sich schminkten oder die gar in der Öffentlichkeit rauchten und die noch dazu außerhalb der Öffentlichkeit ohne weiteres mit mir ins Bett gingen, das waren meist Ausländerinnen. Um in Tübingen die große weite Welt (der Stuyvesant) kennen zu lernen, ging ich in den Club, den der Asta für ausländische Studenten eingerichtet hatte. Hier rauchten die Studentinnen und schminkten sich und wenn ich Glück hatte, schliefen sie sogar mit mir. Sie waren aus der französischen Schweiz oder aus Schweden oder aus Amerika oder aus England – jedenfalls nicht aus Deutschland. Weltläufig waren Tübinger Studentinnen nur, wenn sie ein Semester im Ausland, gar in Lausanne oder Paris studiert hatten. »Nachher« waren sie nicht wieder zu erkennen, sogar gefärbte Haare hatten sie, wenn sie aus der weiten Welt (und das war das Ausland) zurückkamen. So habe ich Dorothea »vorher« und »nachher« erlebt und Susanne, die eine heiratete meinen Studienfreund Rolf Michaelis, die andere den zu meiner Bewunderung vorausstürmenden Kollegen Joachim Kaiser. Beide gingen als brave schwäbische Mädchen ins Ausland und kamen als brave schwäbische Mädchen zurück – nur dass sie inzwischen aufzutreten wussten, wie es die meisten Studentinnen erst später lernten. Mondän, weltläufig. Wenigstens a bissle.
    Eine typische Tübinger Studentin trug damals ihr Haar weder blond gebleicht noch, wie später unter Studentinnen üblich, hennarot gefärbt, sondern als Knoten, »Glaubensfrucht« hieß dieser Haarkreisel im Nacken. Einer dieser »Kommilitoninnen« verdanke ich die etwas verstörende Einsicht, dass Partnerinnen für mich nicht nur Objekte der »reinen Liebe« waren und noch weniger Spekulationsobjekte der »wirtschaftlichen Überlegungen« (das hätte ja meiner kitschigen Idee der »Liebe um ihrer selbst willen« widersprochen), sondern dass ich Frauen auch dazu benutzte, natürlich ohne mir dessen bewusst zu sein, um mein durch den Flüchtlingsstatus und die wirtschaftlich schwache Situation angeknacktes Ego aufzupolieren. Um das zu erfahren, bedurfte ich einer Lektion, die mir ein Studienfreund aus Heilbronn erteilte, älter als ich, er hatte noch die

Weitere Kostenlose Bücher