Auf der Flucht
wilhelminischen Spießer – und zwar mit dem, der noch in den fünfziger Jahren fortzuleben schien. Ich beschaffte mir alle Stücke von Sternheim (der damals noch nicht in einer Stück-Ausgabe verlegt war) und schrieb eine Monographie über ihn – mein erstes Buch.
Ich habe einige Zeit später Rudolf Noelte als Regisseur ans Stuttgarter Staatsschauspiel geholt, 1963. Er inszenierte den »Snob«. Um ihn für eine Inszenierung zu gewinnen, musste man seine Arbeit lieben – denn er forderte von seinen Dramaturgen ein gehöriges Maß an Geduld und Verständnis. Ich liebte und bewunderte seine Arbeit, die sperrig und fremd in ihrer Menschenkenntnis und poetischen Akkuratesse im herrschenden Trend wirkte, aber gleichzeitig wie ein seltener, schön leuchtender Edelstein. Dabei war, seltsam genug, die Genialität dieser Theaterarbeit aus ihrer Ängstlichkeit geboren. Noelte war den Stücken gegenüber von einer schier wortklauberischen Treue. Ich bin stolz darauf, dass ich ein Jahr später die Widerstandskraft und Geduld aufbrachte, ihn bis zum Probenende und zur Premiere von Tschechows »Drei Schwestern« in Stuttgart zu halten. Mehrmals während der Proben drohte er abzureisen, einmal tat er es wirklich. Wegen eines in seinen Augen schlampig gefertigten Bühnenbildes. Ich bat den Intendanten Schäfer, ihm nachreisen, ihn zurückholen zu dürfen. Das Ergebnis war sicher eine Epoche machende Tschechow-Inszenierung, der Beginn einer Renaissance.
Frauen
Kurt, einen meiner besten Freunde während der Studienjahre, habe ich im Flüchtlingslager in Berlin-Frohnau kennen gelernt und dann in Tübingen wieder getroffen. Er studierte Jura, war ein höflicher Mann mit betont bürgerlichen Manieren, geborener Ostpreuße, klein, freundlich, spießig aussehend, immer mit Krawatte und wesentlich älter als ich, nämlich damals bereits Mitte dreißig. Bevor er in den Westen flüchtete, war er Volksrichter in Mecklen burg gewesen und wollte sich als Jurist jetzt im Westen »ehrlich machen«, das heißt, die Willkür volksdemokra tischer Klassenjustiz durch die Finten und Finessen eines rechtsstaatlichen Systems ersetzen. In den ersten Semestern wusste er unendlich viel mehr als seine viel jüngeren Kommilitonen, was ihm später zum Verhängnis wurde, denn wegen seines Wissensvorsprungs begann er sein Studium zu vertrödeln, vor allem mit stundenlangem Schach spiel in den Studenten-Cafés, und irgendwann kriegte er die Kurve nicht mehr, das heißt, er schaffte es nicht auf den zum sturen Pauken nötigen Fleiß umzuschalten, er war in Bequemlichkeit erstarrt, so dass es nichts mit einer großen Karriere als Richter, Staatsanwalt oder Rechtsanwalt wurde. Vielleicht stand ihm letzten Endes doch seine DDR-Vergangenheit im Wege, jedenfalls übernahm er später irgendeinen Verwaltungsposten bei einer Wohnungsbaugesellschaft.
In Tübingen, in den Jahren, in denen er noch auf eine juristische Zukunft hoffte, richtete er sich eine Mansardenwohnung ein mit der erbarmungslos überkommenen Gemütlichkeit aus schwellenden Kissen, Südweinkaraffen, Kaffeetassen und Kuchengabeln, kerzenübertropften Chiantiflaschen und Salzstangenhaltern aus Messing. Sein Geschmack war eben noch der Nischengeschmack der DDR, der sich wiederum an dem Nischengeschmack mit Spitzendeckchen und Tropfenfängern, Zierpflanzen und geblümten Kissen des Kleinbürgers aus der Nazizeit orientierte, der sich wiederum … und so weiter bis zur Plüsch- und Steinzeit. Obwohl wir gut befreundet waren, hätten wir verschiedener nicht sein können: Er hatte »Hörzu« abonniert (die heile Mecki-Welt mit Ratschlägen für den Blumenfreund, Tipps gegen hartnäckige Flecken und Reproduktionen klassischer Bilder mit zehn Fehlern, durch die man das Original von der Fälschung unterscheiden sollte), ich las den »Spiegel« und begeisterte mich für Peter Rühmkorf; er konnte Kafka nicht lesen (ein »schreckliches Juristen-Deutsch«, wie er fand), hatte stattdessen Rabindranath Tagores blumige Lebensweisheiten in eine Art Poesiealbum exzerpiert. Von Tucholsky liebte er ausgerechnet das Liebeskauderwelsch von »Rheinsberg« und, natürlich, Saint-Exuperys »Kleinen Prinzen«, der mir eher ein Graus war und den ich Mädchen nur aus »niederen Beweggründen«, um sie weich, schmiegsam und gefügig zu machen, vorlas. Mit tiefem Blick in die Augen. »Man denkt nur mit dem Herzen« – oder so ähnlich. Was Hesse anbetraf, war er für »Narziss und Goldmund«, ein Buch, das ich
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