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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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abzufließen, kamen Exkremente, Papier hoch, füllten die Kloschüssel bis zum Rand. Ich starrte verzweifelt auf diese Kloake in dem hellen freundlichen Raum – aus einer sturmfreien Bude war eine scheußliche Falle geworden. Schließlich habe ich in meiner Verzweiflung Jacke und Hemd ausgezogen und mit dem nackten Arm die Verstopfung beseitigt. Es war ekelerregend, aber ich habe es geschafft. Danach habe ich mich gewaschen, immer und immer wieder.
    Das war mein Eintritt ins und mein erster, erfolgreicher, Kampf mit dem hygienischen Zeitalter, ein Pyrrhus-Sieg. Ich habe Ann meinen heimlichen Kampf gegen ihre Scheiße nie verziehen. Als wir Wochen später Thanksgiving mit der Fulbright-Gruppe feierten, mit Kastenbier im Garten des Amerika-Hauses, hatte Ann andere junge Männer im Auge, die sie mit ihrer Gunst überschüttete; mich vernachlässigte sie. Nach jedem gescheiterten Versuch, ihre Aufmerksamkeit zurückzuerobern, griff ich zu einer neuen Bierflasche. Schließlich war ich so verzweifelt betrunken, dass mich zwei hilfreiche Studenten aus New York, mit denen ich das Kafka-Seminar bei Beissner teilte, vorsichtig beruhigten und wegbrachten. Ich könne Frauen nicht verstehen, ich könne Ann nicht verstehen, lallte ich. Mein kluger New Yorker Freund Isaac sagte, er könne verstehen, dass ich Ann nicht verstehe. Und dann versuchte er sie mir zu erklären. Leider habe ich die Erklärung mit meinem berauschten Kopf nicht verstanden.
    Später, viel später habe ich den Nestroy-Satz (oder ist er von Gidé) liebgewonnen, den von den Frauen.
     
    Die Frauen haben's gut
    Sie rauchen nicht.
    Sie trinken nicht.
    Und Frauen sind sie selber
     
    Theoretisch wusste ich schon vorher alles, sogar auf Mittel hochdeutsch. Von hoher Minne, von niedriger Minne. Nur Kunderas Versuch über die Scheiße, den kannte ich noch nicht.
     
    Fotos
     
    Erinnerungen, Fotografien – ich helfe mir mit einer Analogie. Es gibt Menschen, die ihre Fotos von Kindstaufen, Kommunionen, Konfirmationen (Jugendweihen kommen in meinem Erinnerungsrepertoire nicht vor), von Hoch zeiten, Ferienreisen, Betriebsfeiern, von Weihnachten und Ostern in Schuhkartons werfen – in der Hoffnung, eines Tages würde Zeit sein, sie zu ordnen. Die Zeit kommt nie und so liegen die Fotos, abgelichtete Erinnerungen, um mit einer Redensart aus der Bauernwelt zu sprechen, durch einan der »wie Kraut und Rüben«. Manchen Schnapp schüssen des Gedächtnisses geht es ebenso.
    Andere ordnen die Fotos sofort, wie eine erjagte Beute, die als Fell vors Bett gelegt oder als Geweih an die Wand genagelt wird, kleben sie nach der Taufe, der Geburtstagsfeier in Alben ein, schreiben sinnige und unsinnige Bemerkungen dazu. Sie gleichen Schmetterlingssammlern, die sorgfältig darauf achten, dass der feine Staub auf den Flügeln konserviert wird. In Menschen, die Fotoalben füllen (meine Frau tut dies), mischt sich Familiensinn, die Sucht und Sehnsucht, in einer Welt zentrifugaler Flüchtigkeit Tradition zu stiften, mit einer gewissen Nekrophilie. Niemand wirft hier etwas durcheinander wie »Kraut und Rüben«. Natürlich, und das ist das Nekrophile an gesammelten Bildern wie an Erinnerungen, sie lassen nicht nur Totes und Tote vor unserem Gedächtnis auferstehen, sondern auch die eigenen abgestorbenen Teile, die sich im Lauf der Jahre abgeschürft und abgerieben haben; so betrachtet man auch die eigenen Fotos wie die eines Toten, fast Unbekannten. Dafür kann ich einen geradezu »naturwissenschaftlichen Beweis« liefern: Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« habe ich in der von 1961 an erscheinenden Werkausgabe zum ersten Mal gelesen – ich begann damit in einem Sommer, in dem mich meine erste Frau, direkt nach der Scheidung, zusammen mit meinem Sohn Daniel nach Caracas verlassen hatte. Ich war Dramaturg in Stuttgart, und ich bilde mir ein, mich an meine Stimmungs- und Gemütslage noch genau zu erinnern: Vor mir grell orangefarbene Vorhänge in einem leeren Kinderzimmer, in mir eine Mischung aus Verzweiflung, Erleichterung und Trauer. Die wieder gewonnene Freiheit – und Freiheit war für mich im Westen zumeist sexuelle Freiheit – war erkauft mit Verlustängsten und Verlassenheitsgefühlen, erotischen Wilderergefühlen und narzisstischen Kränkungen. Vor allem mein Sohn fehlte mir, klein und in meinen Augen »entführt« nach Venezuela, er würde in einer anderen Sprache, in einer anderen Welt, auf einem anderen Kontinent, der für meine Verhältnisse unerreichbar

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