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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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süßlichkitschig fand – später lieferte mir Carlheinz Deschner in »Kunst, Kitsch, Konvention« die Argumente, polemische: Benn, Peng!, Gottfried Benn, das war's! Mit Wonne zitierte ich: »Es hat sich allmählich herumgesprochen, dass das Gegenteil von Kunst nicht Natur ist, sondern gut gemeint.« Peng! Das saß, Nix Tagore, nix »Narziß und Goldmund«. Von Hesse liebten wir Beissner-Schüler bestenfalls den »Steppenwolf«, obwohl ich zugeben muss, dass ich für das »Glasperlenspiel« damals auch vorübergehend schwärmte.
    Der tiefere Sinn unserer Freundschaft, die für mich als Achtzehnjährigen begann und bis 1958 dauerte und auf den achtzehn Jahren Altersunterschied, besser gesagt: Lebenserfahrung beruhte, waren die Mädchen, die Frauen. Kurt erlaubte mir, meine jeweilige Angeschwärmte mit zu ihm zu bringen, denn ich hatte keine »sturmfreie Bude«, und bei ihm war es gemütlich, wir konnten Tee mit abgespreiztem Finger trinken und uns in einer Stimmung wie in übersüßem Likör wohl fühlen. Leider war er den meisten Mädchen, die ich mitbrachte, zu alt und zu altmodisch: Elfie von K. zum Beispiel, die ich auf dem Tübinger Bahnhof kennen gelernt hatte, als sie Becketts »Warten auf Godot« erwartungsfroh und aufreizend in der Hand hielt, um dann auch gleich mit mir darüber zu sprechen. Godot, damals 1953 der letzte Schrei, in aller Munde, auch bei jenen, die nur den Titel kannten und sich ihren fröhlich-nihilistischen Reim darauf machten – später auch gegen Brecht. Sie war mit Tagore nicht zu beeindrucken, fand Kurt aber »nett«, wenn auch »viel zu alt« mit seiner seltsamen Höflichkeit aus abgespreiztem Finger und tiefer Verbeugung, manchmal auch mit Handkuss bei Willkommen und Abschied. Trotzdem ist sie, die ich später als ZDF-Ansagerin wieder sah, mit mir und Kurt bei Mondschein zur Wurmlinger Kapelle marschiert, in einer lauen Sommernacht, wo Tübinger Studenten wegen des Uhland-Gedichts (»Droben stehet die Kapelle«) romantische Nachtausflüge unternahmen, als lebten wir im 19. Jahrhundert. Und später hat sie mir gestanden, wie schön dieser Spaziergang hätte gewesen sein können, wenn, ja wenn der alte Kurt nicht dabei gewesen wäre. Und ich hatte auf ihn so große Stücke gesetzt.
    Kurt mit seinem Kavaliersgehabe hätte am liebsten Pfänderspiele mit den jungen Mädchen gespielt – andererseits kannte er das Leben als Volksrichter, wo es um Betrug und Ehebruch, kurz um all das gegangen war, was damals »Unzucht« hieß.
    Eines Tages zeigte er mir leicht weichgezeichnete schwarzweiße Aktaufnahmen von der Frau eines Staatsanwalts, die ihn ab und zu als heimliche Geliebte besuchte. Sie, die Frau, kam mir damals mit ihrem weiß schimmernden Körper auf den matten Bildern sehr begehrenswert vor, schon allein wegen der »verbotenen Situation«, an der ich als Voyeur teilhatte. Einmal hatte ich sie von weitem mit ihrem Mann gesehen – Kurt hatte sie mir, indem er mich in die Seite stupste, gezeigt. Und ich verstand nicht, dass eine Frau, die des Nachts mit ihrem schönen Körper auf Kurts Sofa lag, mit einem so hässlichen Mann verheiratet sein konnte. Andererseits war Kurt, der mit seinen siebenunddreißig oder achtunddreißig Jahren damals für mich schon ziemlich verbraucht und abgenützt aussah, auch nicht das, wonach ein weißer Leib einer voll erblühten Frau sich unbedingt sehnt und verzehrt, nach meiner Vorstellung. Und das um den Preis höchster Gefahr!
    Nein, damals »verstand« ich wirklich nichts von Frauen, von Beziehungen, obwohl ich doch so viel gelesen hatte. Das war ja auch mehr als zehn Jahre vor der Zeit, da Luis Buñuel mit der makellos schönen Catherine Deneuve sein Meisterwerk »Belle de jour« drehte, einen meiner liebsten Filme. Buñuel zeigte eine Moral, die noch intakt ist, gerade weil sie schon so brüchig ist und nur existiert, weil es Tag und Nacht gibt. Die weißen und die schwarzen Schwäne, Odile und Odette. Und dass sie in Wahrheit ein und dieselbe sind. Im übrigen sah die Frau Staatsanwalt bei helltrübem Tageslicht – es war wohl ein matschiger Novembertag – nicht so aus, dass ich unbedingt hingesehen hätte zu ihr, hätte mich mein Freund nicht mit einem stolzen »Psst-Psst« angestoßen: »Die da, die da, die ist es!« Auch Hebbels »Gyges und sein Ring« kannte ich damals noch nicht.
    Für mich und meine gleichaltrigen Freunde waren Frauen damals das Unbekannteste, was es auf der Welt gibt, und wir machten uns nur durch unsere Projektionen mit

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