Auf der Flucht
Wochenende aus Brilon hinaus in die große Welt, also beispielsweise nach Münster oder Osnabrück. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie es mir mitten in den fünfziger Jahren und mitten im tiefschwarzen Münster gelang, für uns ein gemeinsames Hotelzimmer zu finden. Marbella sah in den Augen der deutschen Hotelangestellten an den Rezeptionen sicher »temperamentvoll« und »exotisch« aus, und dass wir hier waren, um gemeinsam die Wurzeln des Westfälischen Friedens zu erforschen, hat sicher niemand angenommen. Ich glaube, man sah uns die Sünde an, derentwegen wir hier waren. Aufgeflogen sind wir dennoch nicht; vielleicht wirkten wir derart rührend jung, dass man, wenn man schon an Liebe dachte, uns für Pfadfinder der Liebe hielt. Doch ein Sprichwort, das ich meiner jungen Freundin damals bestimmt noch nicht hätte übersetzen können, bewahrheitete sich dann doch, nämlich dass der Krug so lange zum Brünnen geht, bis er bricht. Es kam die Stunde der Wahrheit, und sie kam deshalb, weil ich mich um die Wahrheit herumdrücken wollte.
Das Goethe-Institut machte von Zeit zu Zeit Exkursionen und Ausflüge, zum Beispiel nach Münster, das wir schon heimlich erkundet hatten, wenn auch zu anderen Zwecken. Diesmal ging es wirklich um sakrale Bauten und historische Stätten. Irgendwann in der Stadt merkte ich, dass sich die Gruppe der Südamerikaner separiert hatte, wahrscheinlich waren sie mehr am Besuch eines Cafés als an der weiteren Besichtigung eines Klosters interessiert. Ich, der Aufsichtslehrer einer anderen Klasse (und in einem ande ren Bus platziert), konnte mich natürlich nicht separieren.
Als sich am Abend alle zur vorgegebenen Zeit wieder an den drei Bussen versammelt hatten, fehlten die Südamerikaner. Dr. Erk, der Direktor des Instituts, war ein strenger Mann von Prinzipien: Er gab den Abwesenden noch eine halbe Stunde und als diese verstrichen war, fuhren wir los. – Vielleicht hilft an dieser Stelle der Hinweis, dass es noch keine Handys gab und das Telefonieren von Postämtern einem Staatsakt gleichkam. – Er, Erk, und also auch wir ließen die Südamerikaner schutzlos im kalten Münster zurück. Sie müssen sich gefühlt haben, als hätten wir sie in der Wüste oder an einer Strombiegung am Amazonas, nein am Ganges ausgesetzt. Und ich hatte nicht einmal versucht, den Bus für meine heimliche Gefährtin aufzuhalten, ja nicht die geringste Anstrengung unternommen, alleine auf die Versprengten zu warten. Damals hatte ich natürlich noch keinen Führerschein, und dass ein Dozent am Goethe-Institut ein eigenes Auto gehabt hätte, war eher unwahrscheinlich. Später, in Ebersberg, gab es einen Kollegen, der schon ein Motorrad besaß.
Marbella jedenfalls fühlte sich verraten, schmählich von mir im Stich gelassen. Sie schaffte es aber, mit ihrer deutschen Ziehmutter, mit »Mutti Koch« in Düsseldorf, zu telefonieren, die sie sofort durch Fritz, den Chauffeur der Familie, abholen ließ. Niemals wieder würde man sie dem Goethe-Institut überantworten, das eine kleine, arme Fremde schutzlos auf der Straße hatte stehen lassen. Das alles erfuhr ich von den anderen lateinamerikanischen Studenten, die mit dem Taxi zurückgekommen waren. Dass Marbella ihren vorübergehenden Pflegeeltern natürlich auch ihre Beziehung zu mir gestanden hatte, erfuhr ich von Dr. Erk, der mir mit entsetztem Wohlwollen davon Mitteilung machte und mich bat, dafür Verständnis zu haben, dass er mich von meinen Lehrverpflichtungen entbinden müsse – jedenfalls bis »München« entschieden habe.
»München«, das heißt die Zentrale im Bernheim-Bau am Lenbachplatz, entschied, dass es besser wäre, wenn ich aus Brilon nach Ebersberg in Bayern versetzt würde, und so kam ich aus dem katholisch-sittenstrengen Brilon ins katholisch-lebensfrohe Ebersberg, das an einem See lag, auf dem im Winter Eisstockschießen veranstaltet wurde. Ich erlebte den rauschenden, ländlich rustikalen Fasching, und unsere Ausflüge führten uns nicht mehr nach Münster und Osnabrück, sondern zu den Schlössern Ludwigs II., Neuschwanstein und Herrenchiemsee. Ich war wieder da, wo ich sein wollte. Zurück aus der norddeutschen Verbannung.
Ich heiratete Marbella in der Kirche in Ebersberg, für den Anzug hatte ich ein Darlehen aufnehmen müssen, auf Ringe verzichteten wir und als wir – sie in roter Seide mit roter Stola, ich in einem glänzend anthrazitfarbenen Anzug mit nagelneuen spitzen Schuhen – im Auto des Institutsleiters, der
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