Auf der Flucht
Unterschiede, ob es sich um Mexikaner, Kolumbianer, Kubaner oder Venezolaner handelte. Sie waren uns Deutschen – jedenfalls in der Oberschicht, der die meisten als Studenten angehörten – in ihrer ironischen Lebensklugheit, ihrer Welterfahrung haushoch überlegen, jedenfalls empfand ich das so. Vor allem: Ich lernte zum ersten Mal junge Menschen kennen, die keine, aber auch wirklich keine Rassenprobleme und Rassenschranken kannten; das war damals, zumal im »gebürgichten Westphalen«, schon ungewöhnlich. Sie waren sechs, sieben Studenten. Und mitten unter ihnen ein bildschönes junges Mädchen, das vor Übermut, Witz und guter Laune nur so zu sprühen schien; sie flirtete mit allen, kameradschaftlich, wie das Studenten tun; unverbindlich, weil sie nur für kurze Zeit gemeinsam hier waren und dann bald wieder über ganz Deutschland verstreut. Sie war Venezolanerin, noch keine achtzehn, hatte blauschwarze glänzende Haare, einen bräunlichen Teint, der makellos strahlte, wunderschöne Beine, die sie wirksam übereinander schlug, sinnlich volle Lippen, schneeweiße Zähne – kurz, sie war für mich deutschen Provinzler und Hinterwäldler das Ideal einer Frau aus der Welt des Amazonas – sie war wirklich kurz vorher zur »Miss Amazonas« gewählt worden, einer jener albernen Prozeduren jener Jahre. Es gab einen Kalender, in dem ihre Bilder alle zwölf Monate illustrierten. Auf einem saß sie im Ranchero-Rock mit Gitarre im Gras – heute wirken die Bilder rührend steif. Und der Kalender wirkt wie der einer Sparkasse.
Ich hätte nie gewagt, mit ihr zu flirten, denn erstens war ich ja Lehrer und sie Schülerin, die mich mit ironischer Herausforderung trotz meines jugendlichen Aussehens und meiner abgewetzten Cordsamthose »Professor« nannte. Und zweitens war sie aus einer anderen, einer großen Welt. Aber jetzt, um es dem Mädchen aus Wuppertal zu zeigen, traute ich mich, forderte die kleine Señorita aus Venezuela zum Tanzen auf und hielt sie dann, immer enger tanzend, einen ganzen Abend, eine ganze Nacht lang im Arm, anfangs, um die Wuppertalerin eifersüchtig zu machen, dann, weil ich sie viel sinnlicher, reizvoller fand als sämtliche Wuppertalerinnen. Und schließlich, weil ich mich in sie verliebte und stolz war, dass sie mich in meiner Verliebtheit nicht zurückstieß, sondern mich, im Gegenteil, annahm, ermunterte, ermutigte, anheizte.
Wir wachten am nächsten Morgen in meinem Zimmer neben dem Stall mit den stampfenden Pferden auf, Gott sei Dank so früh, dass sich Marbella, so hieß die noch nicht einmal achtzehnjährige Venezolanerin, zurück in ihr Zimmer, das ebenfalls in einem Bauernhaus war, schleichen konnte.
Marbella Mejia Perez, von der ich nicht einmal sicher war, dass sie Marbella hieß, denn in einigen Papieren hieß sie auch Marvela, wie ich später herausfand: Als wir heirateten, unseren Sohn taufen ließen, die Scheidungspapiere mit Anwälten bearbeiteten, umzogen, uns an- und abmeldeten, wieder heirateten, wieder geschieden wurden, sie nach Venezuela flog oder mit dem zweiten Sohn per Schiff nach Südamerika fuhr, wieder zurückkehrte – und das ein paar Jahre lang zwischen Ebersberg und Caracas, zwischen Stuttgart und Caracas, zwischen Caracas und Hamburg.
Marvela mit v oder Marbella mit b, wie sie überhaupt zwischen B und V schwankte, wenn sie neue deutsche Wörter versuchte, »Wadebanne« statt »Badewanne«, »Gewehrmutter« statt »Gebärmutter«, und ich erinnere mich an die ersten Briloner Tage, an denen wir mittags mit ihren südamerikanischen Freunden lustig und nachts heimlich zusammen waren, ich erinnere mich, wie mich ein Mexikaner »Bas ist das?« fragte oder ein Kolumbianer von »Vrilon« sprach.
Wir waren ein seltsames Paar, das tagsüber gar keines war, sondern Lehrer und Schüler – aber sie war nicht in meinem Kurs, weil ihr Deutsch schon besser war als das meiner Araber – und wir verständigten uns mit einem winzigen deutschspanischen Taschenwörterbuch, das für unsere Bedürfnisse ausreichte. Einmal habe ich sie, am Freitagabend, ins Programmkino mitgelotst, es lief »Der dritte Mann«, und in der deutschen Synchronfassung sprachen Paul Hörbiger und Ernst Deutsch Wienerisch, Orson Welles, Alida Valli und Joseph Cotten waren synchronisiert. In dem Film gibt es eine Szene, in der der verliebte Joseph Cotten (er ist ein amerikanischer Schriftsteller, der zu seinem Freund nach Wien kommt und feststellen muss, dass der Freund – Orson Welles – tot ist,
Weitere Kostenlose Bücher