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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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scheinbar) Alida Valli einen Text abfragt. Sie spielt nämlich in einer billigen Wiener Operette irgendein »süßes Mädel« mit weiß gepuderter Perücke aus der Mozartzeit, hübsch und süß wie eine personifizierte Mozartkugel, und er versucht, sie über den Tod ihres Freundes zu trösten. Also fragt er sie den Text ab. Und im Text kommt das Wort »Heurigen« vor und er weiß nicht, was das ist und betont »Heurigen«, auf der zweiten Silbe und sie nimmt ihm das Textbuch mit einem verzweifelten Grinsen ab. Das hat keinen Zweck, sagt sie. Heurigen!
    Und neben mir im Kino, bei einem meiner liebsten Filme, saß eine Südamerikanerin, die B und W durcheinander brachte, und wenn ich ihr gesagt hätte: »Ich glaube, du verstehst nur Bahnhof!«, hätte sie auch das nicht verstanden. Jedenfalls nicht richtig. Aber ich war glücklich, dass sie im kalten Herbst mit mir meinen Lieblingsfilm ansah, damals, als sie weder was von Wien noch von einem unter vier Besatzungsmächten aufgeteilten Wien verstand und die Kriegstrümmer ihr eher exotisch vorkamen; aber selbst darüber haben wir uns keine Gedanken gemacht.
    Damals wurde Venezuela von dem Diktator Perez Jimenez regiert, das Land boomte im Erdöl-Reichtum, es eiferte, was Luxus und Architektur betraf, den Amerikanern nach, die man bewunderte, was ihre Straßenkreuzer anlangte, ihre Art, in Miami Wasserski zu fahren und Miss-Wahlen zu veranstalten; und die man als »Gringos« verachtete. Caracas gehörte zu den Glitzerstädten, wie Rio mit der Copa Cabana oder Miami oder in Europa Rom, Nizza oder Monte Carlo.
    Marbellas Vater, ein Schneider aus Kolumbien, war gestorben, sie war die jüngste Tochter von sieben Kindern, mehr Schwestern als Brüder. Eine ihrer älteren Schwestern hatte einen Deutschen geheiratet, den einzigen Sohn eines Düsseldorfer Kaufhausbesitzers, Koch am Wehrhahn hieß das Unternehmen damals. Und da Marbella sich von ihrer Mutter in ihrer Lebenslust nur schwer bändigen und gar zu Miss-Wahlen verführen ließ, hatte die ältere Schwester vorgeschlagen, sie zu ihrer Schwiegermutter nach Düsseldorf Meerbusch zu schicken. Dort ging es streng katholisch zu, und »Mutti Koch«, wie Marbella ihre Ziehmutter nannte, meldete sie, die einigermaßen Klavier spielen konnte, am Robert-Schumann-Konservatorium an und schickte sie vorher für einige Monate ans Goethe-Institut, eben nach Brilon, zu ihrem und meinem Glück und Unglück; der Zufall, ein b'soffener Kutscher.
    Marbella Mejia Perez fiel durch ihre Lebenslust auf, »temperamentvoll« nannten das damals die meisten Deutschen mit einer Mischung aus Bewunderung und Vorbehalt. Und »temperamentvoll« war Marbella in der Tat. Später, als wir unsere Zimmerschlachten in Stuttgart führten, ich ein junger Redakteur, sie eine junge Mutter, fragte mein Feuilletonchef Richard Biedrzynski gelegentlich spöttisch, ob ich des Nachts zuvor wieder in die Ligusterhecke gefallen sei. Meine »temperamentvolle« Frau konnte mir nämlich schon nach Auseinandersetzungen mit ihren Fingernägeln durchs Gesicht fahren, so dass ich aus Scham eigentlich für Tage hätte zu Hause bleiben müssen, was ich mir aber aus Furcht, entlassen zu werden, die Probezeit als Volontär nicht zu überstehen, nicht leisten konnte. So überschminkte ich mit ihrem Make-up notdürftig die Wunden. Das war die Zeit, in der wir Hitchcocks »Psycho« zum ersten Mal sahen und uns unter der Dusche gruselten, also 1960 oder 1961.
    Aber so weit war es in Brilon im Herbst 1959 noch nicht. Wir dachten nicht weiter als vom Tag in die Nacht, lebten sozusagen von der Hand in den Mund, mit einfachen Hauptsätzen und einem kleinen gemeinsamen Wortschatz, aber vielen gemeinsamen Gesten und Berührungen. Einmal, im Café, sagte ich zu einem Mexikaner, der in unserer Gruppe saß und sich kratzte: »Chinches?«, was »Flöhe« heißt. Und er lachte über meine Frage, sah Marbella spöttisch an und antwortete mir mit einem spanischen Sprichwort, das übersetzt etwa so lautete: »Man erschlägt den Fisch, der spricht.« Marbella übersetzte es mir, etwas holpriger, aber dafür lustiger. Überhaupt ergeben sich für junge Paare aus Sprachmissverständnissen noch eher Späße und Witze als Tragödien. Noch spielten wir »Pygmalion« von Shaw und nicht Strindberg oder Albee. Jedenfalls war der Rückschluss, dass ich ein Wort wie »Floh« auf Spanisch konnte, so etwas wie ein Hinweis auf die nächtliche Nähe unserer Beziehung.
     
    Manchmal fuhren wir zu zweit über das

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