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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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welches private Erlebnis sich durch diese traurige Farce literarisch Bahn brach. Walser war mit dem Feuilleton-Redakteur der »Süddeutschen Zeitung«, Hans Joachim Sperr, eng befreundet, auch weil beide gemeinsam beim Süddeutschen Rundfunk gearbeitet hatten. Sperr hatte sich von seiner Frau getrennt und die junge, ungewöhnlich attraktive und gescheite Maria Carlson geheiratet. Walser war Trauzeuge – und nicht der Ehemann. Er hat sie seinem Freund Sperr überlassen – wohl auch weil er zu feige war (oder zu vernünftig oder zu moralisch, was alles auf eines hinausläuft), Sperrs Konsequenzen zu ziehen.
    Maria Carlsson, die kongeniale Updike-Übersetzerin, heiratete später Rudolf Augstein, dem sie zwei schöne und gescheite Kinder gebar. Walser hat mir erzählt, dass Sperr an dieser Frau gestorben sei. Wie das?, fragte ich. Ja, er habe über seine Verhältnisse leben müssen, finanziell. Von Bauernmöbeln erzählte er mir; ich verstand sofort, auch aus eigenem Wissens- und Kontostand, dass ein Feuilletonist finanziell überschätzt wird. Und dann erzählte mir Walser, dass Sperr nach der Trennung rasch gestorben sei, er erzählte es wie mit trauriger Genugtuung. Gestorben?, fragte ich. Selbstmord? Nein, sagte Walser, Sperr sei im Keller auf einen rostigen Nagel getreten, barfuß, und an der Blutvergiftung gestorben. Aber das war doch ein Unfall?, warf ich ein. Walser sah mich mitleidig an. »Zufall, Unfall?«, sagte er, »wenn du meinst!«
     
    Die »Zimmerschlacht« wurde 1967 an den Münchner Kam mer spielen uraufgeführt, inszeniert hatte sie damals der eigensinnige, großartige Fritz Kortner. Auch er, mit Johanna Hofer verheiratet und in lebenslanger Zimmer schlacht mit ihr verbunden, nahm das Stück persönlich. Dem Ehepaar in Walsers Alter war er längst entwachsen, also schrieb er mit Walser zusammen einen zweiten Akt – nach dem Motto: Die Liebe währet ewiglich, oder auch: Hört denn das nie auf! ? Dieser zweite Akt bewährte sich nicht. Spätere Aufführungen strichen ihn wieder ersatzlos. In der Fernsehversion spielen Martin Benrath und Gisela Uhlen das Paar.
    Mit Martin Benrath hatte ich später einen winzigen Gastauftritt in Peter Beauvais’ TV-Film von den »Glücksuchern« von Dieter Wellershoff. Es ging um Untreue und Verlassenwerden. Ich spielte einen Kritiker, was sonst?, zu dem Benrath, als er ihn in der Maske beim Schminken trifft, ironisch sagt: »Schön wie ein Skilehrer!« Eine winzige Rache Beauvais' an einem Kritiker.
     
    In Stuttgart, 1963 im Winter, saß Martin Walser einmal des Morgens in meiner Wohnung, wir arbeiteten an einem Text. Walser, trotz seiner geballten Lebenskraft ein verfro re ner Hypochonder, hatte einen langen Schal um sich geschlungen und kroch förmlich in sich zusammen. Ich, dem es ein Leben lang zu heiß ist, hatte die Fenster offen, Walser fand, dass es zog. Meine erste Frau lebte damals wieder in Südamerika. Die Wohnung war verwaist. Walser fröstelte, er stand auf und schloss das Fenster. »Ich kann versteh'n, dass deine arme Frau dich verlassen hat. Als Venezolanerin in diesem Zug und in dieser Kälte!« Wie wahr! Aber ganz so einfach war es nicht.
     
    Es gibt viel zu tun …
     
    Eigentlich müssten meine Jahre in Stuttgart von 1 960 bis 1969 eine glückliche Zeit gewesen sein, wenn man unter glücklich versteht, dass man ein Ziel vor Augen hat, dass man vorankommt in einer Zeit, deren Perspektive das Voran kommen ist. Man blickt erwartungsfroh und optimistisch in die Zukunft. Vorankommen, das war Deutschlands damalige Bewegungsrichtung: Schneller, weiter, höher! Mehr, mehr, mehr!
    Wir, meine Generationsgenossen, meine Stuttgarter Freunde und ich, hatten Raum, uns auszubreiten, wir füllten das Vakuum, das die Kriegs- und Nachkriegsvergangenheit hinterlassen hatte – zumindest bildeten wir uns das ein. Wir waren Aufsteiger in einem Aufsteigerland, Karrieristen in einem neuen Spiel, das Karriere noch als Fortschritt ansah, als eine Leiter, die hinaufführte zum Besseren. Selbst der Kalte Krieg schien, trotz Mauerbau (oder gerade deswegen?), seine Schrecken zu verlieren wie die Ideologien, die ihn bestimmten. Die Ideologie, nach der wir lebten – ohne es dauernd zu artikulieren und ohne es uns auch nur bewusst machen zu müssen, war, dass wir ohne Ideologie lebten, einfach lebten, tolerant, nach dem simplen Prinzip »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!« Das glaubten wir wirklich, wenn wir uns krachend kumpelhaft auf die

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