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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Steinplatz« anrufen. Ich wollte ihr die Kritik dann telefonisch durchgeben. Als mich das Klingeln dann aus einem schweren Schlaf riss, hatte ich gerade wie bewusstlos geschlafen. Ich hatte die erste Kritik für die »Zeit« glatt verschlafen, weil ich meinen Glücks rausch, nun bei dieser wunderbaren, einflussreichen, über regio nalen Zeitung Theaterkritiker zu sein, ausschlief. Ein kurzer Stich im Kopf, ein Moment der Verzweiflung, dann sagte ich der anrufenden Sekretärin, sie solle mich doch bitte in genau 10 Minuten noch einmal anrufen, ich schriebe gerade die letzten Sätze. Ich sprang aus dem Bett (der heftige Sprung ging als schmerzhafter Riss durch meinen schweren Schädel), legte das Programmheft neben das Telefon (natürlich noch ein Telefon mit Schnur) und ließ mir dann unter der Dusche minutenlang abwechselnd glühend heißes und eiskaltes Wasser über Kopf und Körper rauschen.
    Mit einer Flasche Mineralwasser bewaffnet, wartete ich auf den Anruf und diktierte anschließend meinen Text, den ich mit Hilfe der Besetzungsliste aus dem Programmheft mit den passenden Schauspielernamen auffüllte, aus dem Stegreif – so als hätte ich ihn auf dem Papier formuliert. Als ich fertig war, wurde mir so sterbenselend, dass ich mich zitternd nach der überstandenen Anstrengung übergeben musste. Ich schwor »Nie wieder!«, und diesen Schwur habe ich, was meine Arbeit betrifft, gehalten. Rückblickend aber weiß ich, dass das, was mich zu dieser Verzweiflungstat der Kritik trieb, genau dieses »desengaño« ist – eine Art nihilistischer Leichtsinn, der vieles, ja alles für einen Moment aufs Spiel setzt.
    Übrigens ist diese Kritik, die ich, aus dem Schlaf gerissen, geschrieben habe, in einem Band über Brechts episches Theater nachgedruckt worden – sie liest sich, als hätte ich sie mit aller Sorgfalt durchformuliert. Ich war halt noch sehr jung.
     
    Einer meiner Stuttgarter Freunde war der aus Schwäbisch Hall stammende Fotograf Karo. Er hatte rotes Kräuselhaar, trug eine Nickelbrille, meist schwarze Hosen und schwarze Hemden und war in Stuttgart mit einem Schlag ein gefragter Werbefotograf. Ich erinnere mich noch plastisch, wie er eines Tages den Werbeauftrag einer großen Bierbrauerei bekam und wie im Garten der von ihm gemieteten Villa nahe der Weinsteige ein Fass angestochen wurde und Biergläser mit den hellsten Scheinwerfern angestrahlt wurden, nachdem man sie in Eis abgekühlt hatte, bis sie beschlugen. Der gewünschte Effekt wurde aber erst erzielt, nachdem man eine Lampe im Bierglas versenkt hatte, die das gelbgoldene Nass wie eine Fata Morgana aufleuchten ließ: »Durst wird durch Bier erst schön«, hieß damals ein Slogan der Bierwerbungen. Und: »Zwei Worte – ein Bier!«
    Nach geglücktem Ende der Fotostrecke tranken wir, Karos Freunde, das Fass leer und aßen dazu Brezeln, Rote Würste und Leberkäs. Es war einer der vielen Abende, an denen in Karos Haus ausgiebig gefeiert wurde. Er hatte mit seiner Frau Lore Zwillingssöhne, fuhr mit wachsendem Erfolg immer schnellere Autos, nahm Flugstunden und amüsierte seine Gäste, von denen sich immer irgendwelche in seinem Haus aufhielten, auch wenn er und seine Frau nicht da waren, mit dem Alphabet, das er beim Piloten-Unterricht lernen musste.
    An dem Abend nach dem fotografierten Bier hingen wir alle zuerst in den Gartenstühlen herum, dann, als es kühler wurde, in den Sitzmöbeln im Wohnzimmer. Wir, das waren Schauspieler, ein Psychiater, der sehr erfolgreich Freud auf schwäbisch buchstabierte, seine schöne Frau, mit der alle flirteten, ein junger Wiener Schauspieler, ein Freund von Helmut Qualtinger, ein Maler, andere Fotografen und Oliver Storz, inzwischen bei der Bavaria in München. Damals war gerade ein neues Wort aufgetaucht, das Wort »Frust« – eine Art Wiederauferstehung des barocken Begriffs »desengaño«. Wir hingen also gelangweilt, ermüdet, aber zum Gehen unentschlossen in den Sitzmöbeln herum: Wir waren wie in die Stimmung von Antonionis Film »La notte« getaucht. Oder noch eher: in die des Buñuel-Films »The Exterminating Angel« (»Der Würgeengel«) von 1962, in dem Gäste nach einem Highsociety-Essen unfähig sind, die Räume zu verlassen, so als hielte sie ein unsichtbarer Engel zurück.
    Da also saßen wir und machten, mit immer dünner werdenden Lachern, die Gläser mit dem schal gewordenen Bier in der Hand, Wortspiele um die Wette – alle mit Frust: »Waldes Frust«, rief einer, eine andere nannte den

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