Auf der Flucht
Vorstellungen ihre Bühnen zur Verfügung stellten. Hier wurde über Hochhuths »Stellvertreter« geredet, über die »Ermittlung« von Peter Weiss, später über Stücke zum Vietnam-Krieg – die Bühnen waren die Ventile, durch die eine sich allmählich formierende außerparlamentarische Opposition Dampf abließ. Es waren Solidarisierungsveranstaltungen und man suchte den Beifall, die Zustimmung der Studenten, die die Säle füllten. Hier wurde die stillschweigende öffentlich-rechtliche Übereinkunft von Autoren, Regisseuren, Dramaturgen und Schauspielern durchbrochen, die alle eine Weile gemeinsam aus der als lammfromm und langweilig empfundenen, sich endlos hinschleppenden Adenauer-Ära und der nachfolgenden Zeit der Großen Koalition auszubrechen suchten.
Ich weiß noch, wie ich in Stuttgart von jungen Unternehmern zu Gesprächen in ihre Häuser eingeladen wurde, wie sich um Künstler wie Hajek oder Industrielle wie Dürr Diskussionsgruppen bildeten, wie man sich für lange Nächte im »Club Voltaire« traf, in Kneipen, in denen die Besäufnisse einen Anstrich von politischem Fortschritt und gesellschaftlichem Rebellentum bekamen. Es war eine Boheme-Revolte gegen die als spießig empfundene Enge der Wiederaufbaujahre.
Nicht dass wir gleich gemerkt hätten, dass sich die politische Stimmung mit der wachsenden gesellschaftlichen Ungezwungenheit veränderte. Zunächst einmal genossen wir es, dass wir auf Vernissagen und Lesungen unsere neuen provozierenden Ausdrucksmöglichkeiten feiern und begießen konnten. Dass man bei den solidarischen Umarmungen auch fremde Frauen in den Armen hielt, war nicht das beabsichtigte Ziel, aber ein nicht unerwünschtes Nebenergebnis.
So löste sich in dem Rausch der Feste und dem Schwall der permanenten Feiern und Diskussionen die Arbeit der Theaterleute, Journalisten, Galeristen, Künstler auf; Buchhandlungen (wie die von Wendelin Niedlich in Stuttgart) wurden zu Treffpunkten – erst stritt man heftig, dann feierte man bis zur Besinnungslosigkeit – und immer bis in den grauen frühen Morgen: »Gegen Morgen, in der grauen Frühe pissen die Tannen. Und ihr Ungeziefer, die Vögel, fängt an zu schrein.« Diese Brecht-Verse beschrieben unsere Morgenstimmung.
Trotzdem waren wir, noch, gemeinsam mit der etablierten Gesellschaft, auf dem Weg nach oben, auf dem Weg nach vorne. Die jungen Rebellen rissen die Gesellschaft noch mit, sie wurden als chic, avantgardistisch, modern empfunden, als die nötige Unruhe in der Saturiertheit, die sich breit machte.
Damals schrieb ich das Kapitel über das spanische Barocktheater, über Calderón, Lope de Vega, Tirso de Molina. Im Zusammenhang mit Tirso de Molinas »Don Juan« stieß ich auf den barocken Begriff – Ausdruck einer damaligen Seelenlage – des »desengaño«, des Ekels, des Überdrusses, der Nichtigkeit, ein Gefühl, wie es Goethe im »Faust« mit dem Stoßseufzer »Und so taumle ich von der Begierde zu Genuss / Und im Genuss verschmacht ich nach Begierde« ausgedrückt hat. Ich will hier keine neue deutende Übersetzung dieses Begriffs versuchen, ich weiß nur, dass Mozarts »Don Giovanni« diese verzweifelte Genusssuche aus Überdruss mit schönster düsterer Lust und Verve, mit Gier und Todesgier vollkommen ausdrückt. Und mit der musikalisch wie szenisch vermittelten Ahnung, dass es sich um eine abschüssige Bahn handelt. Ich weiß auch, dass Brecht, der dieses Gefühl nur zu genau kannte – das »Baal“-Gefühl-, später mit pädagogischem Schraubgriff versucht hat, es dem Klassenkampf einzuordnen.
Ich mache einen Zeitsprung nach vorne. 1968, ich war gerade als Theaterkritiker bei der »Zeit« engagiert, fuhr ich zu meiner ersten Premiere, dem »Don Juan« von Molière in der Brecht-Bearbeitung, die ich für meine neue Zeitung besprechen sollte, nach Berlin. Benno Besson, neben Brecht Mitbearbeiter bei dem Molière-Stück, war bereits für die Uraufführung 1952 am Volkstheater Rostock verant wortlich, eine Meisterinszenierung des »epischen Theaters«. Jetzt, über 15 Jahre später, gab es eine Neuinszenierung am Deutschen Theater. Ich besuchte die Premiere in Ost-Berlin, fuhr mit der letzten S-Bahn vor Mitternacht in den Westen, wo ich leider mit ein paar Schauspielern bei »Diener« gründlich versackte, feierte meine Premiere bei der »Zeit« als private Premierenfeier – viel zu lang, viel zu gründlich, bis in den Morgen. Um Punkt 10 Uhr sollte mich die Sekretärin aus dem Feuilleton der »Zeit« im »Hotel am
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