Auf der Flucht
Schulter schlugen, den andern anerkennend, um sich selber anzuerkennen.
Wir arbeiteten viel, und es gab viel zu arbeiten (Es gibt viel zu tun, packen wir's an!, hieß später ein Esso-Slogan). Und man ließ uns arbeiten. Wir, das waren meine Freunde und ich, Journalisten, Rundfunkjournalisten, Fernsejournalisten, Werbeleute, Fotografen, Schriftsteller, Schauspieler, Verlagsleute, Graphiker, junge Professoren, Architekten, Maler, Bildhauer. In Stuttgart wuselte es von Menschen wie uns, die alle etwas Neues machten und dabei auch noch Karriere. Hier drehte Hans Magnus Enzensberger mit dem Psychiater und Filmer Ottomar Domnick seinen Film »Jonas« – Jonas, das war der Name der Stunde; Jonas, der im Bauche des Walfischs überlebt. Stuttgart war der Bauch des Wals, eine neue coole Metropole, voll von neuer moderner (Jazz-)Musik, voll von modernster Architektur im stolzen Schatten der Weißenhofsiedlung und der modernen Kunstakademie.
Hier entwickelte der SDR das Fernsehspiel, für das er eben mal Samuel Beckett als Regisseur seiner eigenen Werke nach Stuttgart einlud. Eine optimistisch gestimmte Zeit lechzte nach Becketts Nihilismus. Jedenfalls leistete man ihn sich. Von Stuttgartern wurde die Bavaria gegründet, die erste moderne TV-Produktionsstätte, für die Peter Zadek am Anfang Fernsehspiele im Stile der Littlewood und des englischen Küchenrealismus entwickelte; auf den Bühnen herrschte irisches Chaos.
Fernsehautoren wie Roman Brodmann und Wilhelm Bittorf entwickelten neue Formen der gesellschaftskritischen Fernsehreportage, des Fernseh-Essays, die – beim Schah-Besuch beispielsweise – eine neue, nicht mehr nur staatstragende Öffentlichkeit schufen, zum ersten Mal durch das Fernsehen. Hier drehte Loriot seine ersten Sketche, fast beiläufig begann die Karriere des größten Humoristen und Satirikers der Bundesrepublik. Kameraleute wie Willy Pankau schufen eine fernsehgerechte Sehweise, Schauspieler und Regisseure, Drehbuchautoren und Dramaturgen stürzten sich erfolgreich wie erfolglos in das neue Medium, tollkühn, mit Kopfsprung wie in ein neues Gewässer, dessen Temperaturen, Strömungen, Tiefen und Untiefen man noch nicht kannte.
Wir alle meinten, an einem Strick, an einem Strang zu ziehen; dass dabei einige, um im Bild zu bleiben, wenn sie strauchelten, stranguliert wurden, merkten wir kaum, wir bemerkten es mit einem bedauernden Achselzucken.
Ich schrieb damals meine ersten Bücher, Monografien über Max Frisch und Carl Sternheim, Beiträge für ein Lexikon des Welttheaters, das Henning Rischbieter und Siegfried Melchinger im Verlag »Theater heute« herausgaben – der Zeitschrift des Jahrzehnts für das sich erneuernde und prosperierende Subventionstheater –, auch das Theater war eine Institution, mit der die Gesellschaft sich kritisch beäugte und spiegelte, während sie sich in lauten und leiseren Skandalen aus dem Korsett der fünfziger Jahre befreite. Ich war Redakteur, Dramaturg, entwickelte eine Fernsehreihe für Jugendliche, die ihre Kreativität für das Theater fördern sollte – »Schreib ein Stück!« hieß sie, alles an ihr war jung, die Redakteurin, die Autoren, die Schauspielerinnen, die Schauspieler, die Regisseure, die Kameraleute. Ich schrieb für das Feuilleton der »Welt«, der »Süddeutschen«, für die »Zeit«, ich schrieb Rundfunkkommentare und machte für das Kulturprogramm »Titel, Thesen, Temperamente« des Hessischen Rundfunks Sendungen über die Buchmesse, führte vor der Kamera Streitgespräche mit Robert Neumann und Josef von Sternberg, drehte ein langes Porträt über Max Horkheimer.
Merkwürdigerweise hatte ich, je mehr ich mich in meine Arbeit stürzte, umso mehr Zeit zum Leben. Bei Berlin-Besuchen saß ich in Dieners »Tattersall«, trank bis zum Morgengrauen – die Stadt hatte keine Polizeistunde – mit Günter Grass Bommerlunder und hörte den alten Biberti von den Comedian-Harmonists-Zeiten erzählen, während er in sein Glas stierte. Uwe Johnson saß hier oder Schauspieler vom Schillertheater, die Nächte während der Theatertreffen, zu deren Jury ich für ein paar Jahre gehörte, waren lang, im »Zwiebelfisch« oder in der Bar des Hotels »Am Steinplatz«, wo fast alle Theaterleute wohnten, wie alle Filmkritiker während der Berlinale im »Schweizer Hof« in der Budapester Straße. Man verließ die Lokale ins Tageslicht, es waren Feiern ohne Ende.
Damals entwickelte sich eine Diskussions- und Debattierwut, der die Theater am Vormittag oder nach den
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