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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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»Frusteinbruch des Winters«, die »Fruste des Zorns«, »Frust ist in der kleinsten Hütte«. Es war ein Spiel von Gelangweilten, die wieder nüchtern werden und sich ihre »Frustspiele« (für Lustspiele) plappernd von der frustrierten Seele reden wollten. Wie ein nebliger Morgenhauch hatte uns die neue Stimmung erfasst. Wir konnten nicht weggehen, weil wir auf etwas warteten, von dem wir wussten, dass es nicht kommen würde.
    Bald darauf feierte Karo mit fast panischem Lebenshunger und einer fiebrigen Angst davor, dass ihm das Leben davonlaufen könnte, seinen vierzigsten Geburtstag, Unruhe erfasste ihn, wenn der Frust ihn übermannte. Im Winter und Frühjahr saß er am Freitagabend vor dem Fernseher und sah sich den Wetterbericht für die Alpen an. Gab es Schnee, schnallte er die Skier aufs Dach seines Mercedes und bretterte los.
    Und dann, kurz vor München, hatte er einen schweren Autounfall, bei dem er verbrannte. »So klein war er zusammengeschnurrt«, erzählte mir eine gemeinsame Freundin und markierte zwischen wenig ausgebreiteten Händen die Körpergröße eines Zwerges. »Was jetzt so pocht und trotzt«, dichtete der Barockdichter Gryphius, »ist morgen Asch und Bein.« Karos Witwe, die mit den Zwillingen zurückblieb, hatte viel zu tun, bis sie die Schulden abgezahlt hatte, die er im Hinblick auf seine glänzende Karriere gemacht hatte.
     
    1968, ich war kurz vor dem Umzug von Stuttgart nach Hamburg, schenkte mir meine Sekretärin zum Abschied Bert Kaempferts Version von »Strangers in the Night«. Ich war bis dahin auf den Frank Sinatra der Swing-Ära kapriziert, auf »South of the Border« oder »The Lady is a Tramp« oder »Night and Day«. »Strangers in the Night«, das schien mir mit dem Kurkonzert-Rhythmus, tschingderassa bum, ich war vierunddreißig Jahre, Altherrenmusik, »schubi dubi du!«. Das letzte Silvester in Stuttgart 68/69 verbrachte ich im ausgebauten Dachgeschoss der Villa von Karo. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob er da schon tot war. Aber wenn, warum hätten wir dann dort feiern sollen? Aus Trotz? Dennoch? Zu seiner Erinnerung? Die ganze Nacht spielten, tanzten und sangen wir »Strangers in the Night«, als Nationalhymne einer Generation. Inzwischen liebe ich das Lied. Ich bin ja auch schon älter. Es gab damals ein Graffito, das hieß:
     
    To do is to be
    Sokrates
     
    To be or not to be
    Shakespeare
     
    Du be du be bee du
    Sinatra
     
    Ein anderer Stuttgarter Freund war Kurt W., Professor der Kunstakademie am Weißenhof, die damals ein Zentrum modernen Designs war. So wie sich das moderne Theater damals zwischen Ulm und Stuttgart entwickelt hatte – in Ulm war Kurt Hübner Intendant, bevor er nach Bremen ging und Regisseure wie Peter Zadek, Peter Palitzsch, Wilfried Minks, Schauspieler wie Norbert Kappen, Hanne lore Hoger, Friedhelm Plok hatten in Ulm wie in Stuttgart gearbeitet –, so gab es zwischen der HfG Ulm, der Hoch schule für Gestaltung, anfangs von Max Bill und ab 1962 von Otl Aicher geprägt, und der Stuttgarter Akademie eine rege, fruchtbare Verbindung, deren Kreativität aus den fünfziger Jahren herausführte.
    Kurt W. der aus Hamburg stammte, hatte mich zu Vorträgen vor seinen Studenten eingeladen. Er war gerade von einem Besuch in New York wieder gekommen und hatte ganz neues Werbe- und Anschauungsmaterial mitgebracht – zum Beispiel das handgefertigte Poster eines Restaurantbesitzers aus Brooklyn, der für sein Etablissement mit dem entwaffnenden Spruch geworben hatte: »Kommen Sie zu mir herein – sonst müssen wir beide verhungern.« Kurt W hatte kreative Gesamtkonzepte für die Deutsche Post (das gelbe Posthorn als Zentralsymbol gehörte dazu) oder für etliche Pharmakonzerne entworfen. Der Vortrag, den ich bei seinen Studenten hielt, betraf ein SDS-Plakat, das sich der Sozialistische Deutsche Studentenbund als politisch aktiviertes Plagiat einer Bundesbahn-Werbung ausgedacht hatte. Die Bundesbahn warb damals gegen die übermächtige Konkurrenz des individuellen Autoverkehrs mit dem einzigen ihr verbliebenen Trumpf, ihrer Robustheit gegenüber dem Wetter: »Alle reden vom Wetter, wir nicht«, hieß der Slogan.
    Der SDS hatte ihn enteignet und verfremdet, ihn auf ein knallrotes Plakat gesetzt, auf dem die berühmte Ahnenreihe der drei sozialistischen Klassiker prangte, die Köpfe von Marx, Engels, Lenin, eine Kopfgalerie mit abnehmendem Bartschmuck: vom wallenden Rauschebart des Karl Marx über den herabhängenden Vollbart mit gewaltigem Schnauzer

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