Auf der Flucht
Friedrich Engels' bis zum Spitzbart von Wladimir Iljitsch Lenin. Josef Wissarionowitsch Stalin mit seinem Schnurrbart war schon seit Mitte der sechziger Jahre nach der Entstalinisierung aus dem Tempel der Klassiker entfernt worden. Und weder Ho Chi-minh noch Mao, Che Guevara oder Fidel Castro, die Nachfolger in der Stalin-Ikonografie, wurden – obwohl von der internationalen antikolonialistischen Revolutionsbewegung, also auch vom SDS hoch idolatriert – in die Ahnenreihe aufgenommen. Ihre Leistungen für eine bessere, gerechtere Menschheit, die damals unter dem Rubrum »Kulturrevolution« firmierten, waren zwar noch nicht als die grauenhaften Massenmorde und Lynchaktionen durchschaut, deren extremste Ausprägung der kambodschanische Genozid war, aber die deutschen Linken demonstrierten zwar gerne mit Mao-Bildern und -Bibeln, mit Ho-Chi-minh-Spruchbändern oder Che-Guevara-Postern: Die Aufnahme eines dieser Idole in die Klassikerreihe wollten sie nicht. In diesem Zusammenhang scheint es mir nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, dass die Kulturrevolutionäre der Dritten Welt ihre Bildung auf den neomarxistischen Schulen etwa von Paris bezogen haben: Hier wurde die Theorie für die Genozide der Kulturrevolution gelegt. Und der deutsche Baader-Meinhof-Terrorismus war zwar die vergleichsweise sanfteste Welle der Kulturrevolution, aber wenn die Gruppenmitglieder bei der Entführung Schleyers beispielsweise begleitende Polizisten, die en passant dabei umgebracht wurden, als »pigs« (Schweine) bezeichneten, dann war das die Haltung aller Kulturrevolutionäre – auch die abgeschlachteten Bullen waren ja Soldaten des Feindes im weltweiten Befreiungskampf der ehemals durch den Imperialismus Geknechteten der Dritten Welt.
Damals, als es das schöne witzige Plakat mit Marx, Engels und Lenin gab, war die Kulturrevolution in Deutschland an den Hochschulen wie in den USA oder in Frankreich wirklich noch eine Kultur-Revolution, das heißt, es ging um Design, um besseren Geschmack, um eine Aufmöbelung und Mobilisierung der Warenästhetik, die Zufuhr frischer Luft in eine undurchlüftete Welt, ja manchmal um die Mund-zu-Mund-Beatmung einer in Agonie röchelnden Kulturwelt. Das Rot des Plakats war eine Werbefarbe, stark. Sie war nur rot wie Blut, sie forderte kein Blut. Noch nicht. »Alle reden vom Wetter, wir nicht!« Das heißt, der umfunktionierte Slogan des Bundesbahnplakats polemisierte spielerisch gegen eine verspielte Welt: Lass uns nicht mehr vom Wetter reden, sondern von den wesentlichen Dingen. »Mensch, werde wesentlich!« Ich fürchte, ich habe damals noch nicht für das Unwesentliche, das Spielerische plädiert – dafür, wie human es ist, über das Wetter zu sprechen, wie es die englische Demokratie so erfolgreich getan hat – gewiss auch zur Tarnung finsterer kolonialistischer Ziele, aber vielleicht doch mit weniger Unerbittlichkeit.
Vielleicht hatten wir in den sechziger Jahren die frisch gewonnene Banalität eines Lebens, in dem jeder nur nach seinem privaten Glück, seinem egoistischen Vorteil strebt, schon wieder satt. Ich erinnere mich an ein unsägliches Buch von Hans-Jürgen Syberberg, der sich über die feisten, spießigen deutschen Touristen in Paris lustig machte und zu der Feststellung fand, wie viel heroischer, existenzieller die deutschen Besatzer von 1941 bis 1944 in Paris aufgetreten seien in ihren Kommissstiefeln. Ein Hauch von Ernst Jünger wehte damals durch Deutschland – und er bewegte die Extremen rechts wie links.
Dabei hätten wir alle besser auf das Wetter achten sollen (nicht nur auf die sich anbahnende Klimakatastrophe), auf die Witterung, auf das verstörte Klima der Gesellschaft.
Ich hatte Kurt W, einen Mann von feinster Ironie und höchstem Geschmack, der in seiner ästhetischen Radikalität auch sein Stottern besiegte, bei einem Stuttgarter Unternehmer näher kennen gelernt, der so etwas wie ein Monopol für Klimaanlagen hatte, für die er (oder Kurt W. für ihn, wer weiß?) mit dem Goethe-Satz »Luft, Clavigo!« warb. Der Unternehmer Hannes K. hatte ein offenes Haus, das er gerne mit Künstlern und Kultur-Journalisten bevölkerte. Er war reich, offen, gleichzeitig lebenslustig und schwer verstört, und in seinem Haus wurde ebenso gescheit gestritten wie wüst gefeiert. Er hatte, wenn ich mich richtig erinnere, in seiner Villa am Killesberg damals schon ein ziemlich großes Hallenbad und nach einer Feier schwammen bei Tagesanbruch im Becken mehrere große Geldscheine herum. Warum?
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